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109. Die Eule.
Der fruheren Auflage Seite 279)
Der früheren Auflage Nr. 106)
Die Eule hat große, klare, bedächtige Augen und ein außerordentlich
feines Gefieder. Ihr Flug ist so leise, daß auch das feinste Ohr nicht das
geringste Geräusch dabei vernehmen kann. Sie sieht so unbefangen und
arglos aus, daß man glauben sollte, man könnte ihr ganz vertrauen. Aber
der Schein trügt. Sie hat einen krummen Schnabel und scharfe Krallen,
was eine bedenkliche Sache ist. Auch will sie von dem Tageslichte nichts
wissen, sondern sucht sich vor demselben zu verbergen. Wird sie bei Tage
aus ihrem dunklen Schlupfwinkel hervorgezogen, so verliert sie alle Be—
sinnungskraft, und es wird ihr nicht eher wieder wohl, als bis die Nacht
hereinbricht, die ihr Element ist. Da erwacht ihre Natur, und man erfährt
erst, welche Gesinnungen in einer Eule verborgen liegen, so geheim sie auch
ihr Wesen treibt. Die armen Vögel, die sich sorglos einem süßen Schlum—
mer überlassen haben, werden ihre Beute, und manches Mäuschen, das im
Mondschein lustwandeln wollte, kehrt nicht mehr in sein Loch zurück, sondern
muß in den Magen der Eule schlüpfen, aus welchem keine Rückkehr mehr
möglich ist. 3. C. G. Walther