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ein Verwandter in Marseille dem Jüngling ein kleines Vermächtnis
hinterließ. Der künftige Seelenhirt begab sich nun zu Schiff dorthin,
um die Erbschaft in Empfang zu nehmen. Auf der Heimreise wurde
jedoch das Schiff von Seeräubern überfallen und Vinzenz während
des Gefechts schwer verwundet. Die Korsaren schleppten die Mann⸗
schaft nebst den Reisenden in Ketten nach Tunis, und Vinzenz sollte
hier gleich den anderen als Galeerensklave arbeiten. An dieser Stätte
grenzenlosen Elends lernte er die Not seiner Mitchristen kennen.
Seine Herren behandelten ihn jedoch freundlich; ja, es gelang ihm,
seinen letzten Herrn und eine Anzahl abtrünniger Europäer, die in
der Knechtschaft zum Islam übergetreten waren, dem Christenglauben
wieder zuzuführen. Sein letzter Gebieter, ein schlichter Landwirt,
der aus Nizza stammte, gewann seinen Sklaven oder, richtiger ge⸗
sagt, seinen geistlichen Berater immer lieber und ließ sich von ihm
überreden, gemeinschaftlich mit anderen Neubekehrten aus dem
Bereiche der Mohammedaner zu flüchten. Ihr Wagnis gelang, und
nach mancherlei Führnissen und Überwindung unsäglicher Leiden er—
reichte ihr kleines Fahrzeug bei Aiguesmortes den Boden von Süd—
frankreich.
Nicht lange nachher ward Vinzenz von Paula in Rom Mitglied
einer Bruderschaft, welche sich der Krankenpflege in den Hospitülern
widmete, und er beschloß, sich nach Paris zu wenden, in der Hoff⸗
nung, sich daselbst einen größeren Wirkungskreis eröffnen zu kön—
nen. Gar bald aber drängte sich ihm die Überzeugung auf, daß das
bloße Almosengeben nicht ausreiche. Es entging ihm nicht, daß die
reichlichsten Gaben, wenn sie auch der augenblicklichen Not steuern,
nicht selten dazu beitragen, die Empfänger an Trägheit, Heuchelei
und Frechheit zu gewöhnen. Dieses innerliche Verderben der unteren
Volksklafsen hielt er mit Recht für ein großes Unheil und maß ihm
die Schuld an dem sittlichen Elende der Massen, sowie an einer
Menge von Verbrechen bei. So kam er auf den Gedanken, einen Ver—
ein von mildherzigen Frauen zu stiften, die zugleich die Aufgabe
verfolgen sollten, sich der Erziehung verwahrloster Kinder anzuneh—
men. Und um voruehmen Frauen mit gutem Beispiel voranzugehen,
opferte er seine Habe und widmete seine ganze Kraft dem Dienste
barmherziger Liebe. Überall knüpfte er Verbindungen an, und bald
breitelen sich seine Anstalten über ganz Frankreich aus. In Paris
Und in anderen Städten, wo die Straßen von Bettlern und noch
schlimmeren Herumstreichern überfüllt waren, gelang es dem liebe⸗
hoͤllen und demütigen Priester, Tausende für ein geordnetes Leben
zu gewinnen Dabei setzte er sich hinweg, wie über den Spott, so
auch über den Undank. Selbst die Lebensbedrohungen und Miß—
handlungen, womit nicht selten seine Schützlinge seine Liebe lohnten,
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