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zähmen und lernt sogar einzelne Worte sprechen, wenn ihm die Zunge
gelost wird, und wenn man sich mit ihm die nötige Mühe giebt. Eins
verlernt er aber auch in der Gefangenschaft nicht, nämlich alles, was
einen Glanz hat, in sein Nest zu tragen oder sonst zu verstecken. Des—
wegen nennt man ihn einen Dieb und hat von ihm das Sprichwort
entlehnt: „wie ein Rabe stehlen“. Wegen dieser üblen Eigenschaft des
Raben ist in den Häusern, wo man ihn zahm gehalten hat, schon
mancher ehrliche Dienstbote unschuldigerweise in den Verdacht des
Diebstahles gekommen, ja in früherer Zeit sogar mit dem Tode bestraft
worden.
Nach Walther, Bechstein und Brehm.
262. Der Zuchs und der Rabe.
Ein Rabe saß auf einem Baume und hielt ein Stück Fleisch in
seinem Schnabel. Der Fuchs sah es und sann darauf, wie er den
Raben betrügen wollte.
„Meister Rabe,“ fing er an, „Ihr habt ein stattliches Ansehen, Ihr
seid schön und stark wie der Adler Schade, daß Ihr stumm seid und
nicht schreien könnt wie der Adler.“
Den Raben freute die Schmeichelei des Fuchses, und er dachte.
„Ich will ihm doch zeigen, daß ich nicht stumm bin, sondern schreien
kann, so gut wie der Adler.“ Er öffnete seinen Schnabel und ließ das
Fleisch fallen.
Der Fuchs lief mit dem Fleische davon, und der Rabe verfolgte
ihn mit kläglichem Geschrei. Da spottete der Fuchs: „Gebt Euch zu⸗
frieden, Meister Rabe, denkt: Wie gewonnen, so zerronnen! Ihr hattet
das Fleisch gestohlen, und ein anderer frißt es auf. Zum Danke
schenke ich Euch ein schönes Sprüchlein: Wer auf Schmeichler hört, wird
leicht bethört. Nicht wahr, mein Sprüchlein ist doch wohl mehr wert
als ein Stück Fleisch?“
„Wie ist mir so wehe!“ sagte der Fuchs, als er das Fleisch ver—
zehrt hatte; „ich habe Schmerzen im Leibe und in allen Gliebern“
Er ging wie sonst zu dem Gevatter Kranich, der ein berühmter Doktor
war. Dieser fühlte ihm an den Puls und sagte: „Für Euch ist ben—
Hilfe, Ihr habt wohl gar vergiftetes Fleisch gefressen?
„O wehe!“ jammerte der Fuchs, „daran ist der boshafte Rabe
schuld, der hat mir vergiftetes Fleisch gebracht.“ „Ihr habt es ihm ja
mit List genommen,“ sagte der Kranich, „und habt ihm dagegen ein
Sprüchlein geschenkt. Gebt acht, ich will Euch dagegen zwei Sprüchlein
schenken, das eine: Unrecht Gut gedeiht nicht, das andere: Wie di⸗
Thaten, so der Lohn.“
Nach Nop.
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