Full text: [Teil 2 = Quinta, [Schülerband]] (Teil 2 = Quinta, [Schülerband])

145 
49. wie schön leuchtet der Morgenstern! 
Ihr alle habt vom siebenjährigen Kriege gehört. Ihr wißt auch, 
baß Schlesien, die Mark und das Sachsenland ganz besonders durch 
ihn arg heimgesucht wurden. In vielen Dörfern gab es weder Pferd 
noch Kuh, weder Milch noch Brot mehr. Die Häuser lagen zum Teile 
niedergebrannt, und in denen, die noch standen, hatte man weder Ruhe 
noch Schlaf. 
Eben hatte ein armer Schulmeister in Schlesien solch eine schlaflose 
Nacht verbracht und der armen Gemeinde das Glöckchen zum himm¬ 
lischen Morgengruße in ihrer Betrübnis geläutet; da stürmte ein schwarzer 
preußischer Husar, mehr Greis als Mann, an das Haus, band sein 
Pferd an den Fensterladen und forderte die Kirchenschlüssel. 
Der Schulmeister und sein Weib, beides treue, fromme Leute, 
dachten, der Besuch gelte dem silbernen Kelche und den Tressen, die noch 
um das Altartuch waren. Mit bangem Herzen und schweren Füßen stiegen 
sie mit dem Kriegsmanne über den Friedhof weg hinauf zur Kirche. 
Als sie aber hineinkamen, schritt der Husar, so schnell es sein Alter- 
erlaubte, die Chortreppe hinauf, setzte sich auf eine Bank und befahl dem 
Schulmeister: „Mach' Er die Orgel auf und geb' Er mir ein Gesang¬ 
buch!" Der Schulmeister gehorchte. Der Husar schlug sein Buch aus 
und befahl weiter, aber in milderem Tone: „Wie schön leuchtet der 
Morgenstern! Spiel' Er das, lieber Schulmeister, aber so recht fein 
und ordentlich; Er versteht mich wohl!" Das Weib trat die Bälge, der 
Schulmeister spielte, und der Husar sang mit tiefer Baßstimme. Der 
Schulmeister und seine Frau hinter der Orgel fielen auch mit ein. Und 
so sangen die drei das ganze Lied. Der Husar aber sang so aus 
Herzensgründe, daß sich unwillkürlich dazu seine Hände falteten und die 
hellen Thränen ihm auf seinen grauen Knebelbart fielen. 
Als er fertig war, schüttelte er dem Orgelspieler treuherzig die 
Hand und sagte: „Großen Dank, Herr Kantor! Wo ist der Gottes¬ 
kasten?" Dem Schulmeister war aller Argwohn verschwunden. Er¬ 
holte die Armenbüchse. Der Husar steckte ein Achtgroschenstück hinein. 
Dann zog er noch zwei aus der Tasche und sagte: „Darein wollen wir 
uns teilen; nehme Er eins, und eins will ich behalten." Der Kantor 
schlug es aus; aber der Husar drängte so ungestüm, daß keine Weigerung 
half. „Nehm' Er, nehm' Er! es klebt kein Blut daran." Darauf er¬ 
zählte er dem Schulmeister, er habe in dieser Nacht mit seinen drei 
Söhnen auf einem verlorenen Posten gestanden. Ihm sei in der Gefahr 
bange geworden, nicht um sich, wohl aber um seine Jungen. Da habe 
er zum Herrn empor geseufzt: „Herr, erhalte uns!" Kaum habe er 
bies herausgehabt, da sei die Dämmerung am Morgenhimmel herauf¬ 
gezogen, und der Morgenstern habe ihm in die Augen geblitzt. Plötzlich 
Lesebuch für höhere Lehranstalten II. 10
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.