Full text: Lesebuch für Mittelklassen

nach dem Wetter sah, sagte zu seinem Nachbar: „Vor morgen früh 
wird es nicht aufhören.“ 
2. Derselben Ansicht war eine Ameise, die bei diesem Wetter 
im Walde spazieren ging. Sie war am Vormittage mit Eiern in 
Tannenberg auf dem Markte gewesen und trug jetzt ihren Erlös in 
einem kleinen blauen Leinwandbeutel nach Hausen Bei jedem Schritt 
seufzte und jammerte sie. „Das Kleid ist hin,“ sagte sie, „und der 
Hut auch! Hätte ich nur den Regenschirm nicht stehen lassen oder 
wenigstens die Galoschen angezogen! Aber mit Zeugschuhen in 
solchem Regen ist gar kein Welterkommen.“ Während sie so sprach, 
sah sie gerade in der Dämmerung einen großen Pilz. Freudig ging 
sie darauf zu. „Das paßt,“ rief sie, „das ist ja ein Wetterdach, wie 
es nicht besser bestellt werden kann. Hier bleib ich, bis es aufhört 
zu regnen. Wie es scheint, wohnt hier niemand — desto besser! 
Ich werde mich sogleich häuslich einrichten.“ Das that sie denn auch. 
Sie war eben daran, das Regenwasser aus den Schuhen zu gießen, 
als sie bemerkte, daß draußen eine kleine Grille stand, die auf dem 
Rücken ihr Violinchen trug. „Hör', Ameischen,“ hub die Grille an, 
„ist es erlaubt, hier unterzutreten?· — ‚Nur immer heran,“ er⸗ 
widerte die Ameise; es ist mir lieb, daß ich Gesellschaft bekomme.“ — 
„Ich habe heute,“ sagte die Grille, „im Heidekrug zur Kirmes auf⸗ 
gespielt. Es ist ein bißchen spät geworden, und nun freue ich mich, 
daß ich hier die Nacht bleiben kann; denn das Wetter ist ja schrecklich, 
und wer weiß, ob ich noch ein Wirtshaus offen finde.“ 
3. Also trat Grillchen ein, hing ihr Violinchen auf und setzte 
sich zu der Ameise. Noch nicht lange saßen sie da, als sie in der 
Ferne ein Lichtchen schimmern sahen. Als es näher kam, wies es 
sich als ein Laternchen aus, das ein Johanniswürmchen in der Hand 
trug. „Ich bitte euch,“ sagte das Johanniswürmchen höflich grüßend, 
„laßt mich die Nacht hier verbleiben. Ich wollte eigentlich nach Moos⸗ 
bach zu meinem Vetter, habe mich aber im Walde verirrt und weßß 
weder aus noch ein.. — Nur immer zu,“ sagten die beiden. „Es is 
recht gut für uns, daß wir Beleuchtung bekommen.“ Gern folgte 
Johanniswürmchen der Aufforderung und stellte sein Laternchen auf 
den Tisch. Der Schein des Lichtchens führte ihnen einen Wanderer 
zu, der ziemlich ungeschickt über Laub und Moos herangestolpert kam. 
Es war ein Käfer von der großen Art. Ohne „guten Abend!“ zu sagen 
trat er nüher. „Aha!“ rief er, „so bin ich doch recht gegangen, und 
dies ist die Zimmergesellen-Herberge.“ Mit diesen Worien setzte er 
sich, holte seinen Schnappsack hervor und begann, sein Abendbrot zu 
verzehren. „Ja, ja,“ sagte er, „wenn man den ganzen Tag über 
Holz gebohrt hat, dann schmeckt das Essen.“ As er mit dem Essen 
fertig war, stopste er sich seine Pfeife, ließ sich vom Johannis— 
würmchen Feuer geben und fing ganz gemütlich an zu rauchen. Unter— 
236
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.