Full text: Lesebuch für Mittelklassen

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meine Hand gesetzt; ich betrachtete es und freute mich darüber. Da 
raschelte es plößlich gar nicht weit von mir im trockenen Laube, ganz 
leise nur, fast hätte ich's nicht gehört. Ich blickte hin, und was sah 
ich? Eine Schlange. 
2. Etwa acht Schritt von mir entfernt stand ein Haselnußstrauch 
und auf den schlängelte sich die Schlange zu, leise, ganz leise durch das 
hohe, dünne Gras, so daß sich kaum die Halme bewegten. „Die 
hat etwas im Sinne!“ dachte ich; denn ich sah's ihr an, wie vor— 
sichtig sie jedes trockene Blatt vermied, das etwa rascheln könne, und 
wie ihre Augen funkelten und unverwandt nach dem Nußstrauche ge— 
richtet waren. Jetzt sah ich's. Auf einem trockenen Zweige des 
Strauchs, etwa zwei Fuß von der Erde entfernt, saß nämlich ein 
Vöglein, ein buntes, niedliches Finkenhähnchen, den Rücken der unbe— 
merkt nahenden Schlange zugekehrt, und schlug sorglos seine muntern 
Triller. Im ersten Augenblick wollte ich aufspringen den Vogel 
retten und die Schlange vernichten — und ich verzeihe mir heute 
noch nicht, daß ichs nicht gethan habe; aber die Wißbegierde des Natur— 
forschers ließ mich das Mitleid unterdrücken. Indem schlug der Vogel 
noch einmal sein munteres Lied sorglos und fröhlich in den Wald 
hinein. Da fuhr die Schlange schnell wie ein Blitz empor, daß ich 
selbst erschrak, und richtig, sie hatte das Vöglein erwischt, aber nur 
bei einem Fuße. Denkt euch die Augst des armen Tieres, wie es slatterte 
und schrie, gefängen am Maule des Ungetüms!“ 
3. Die Schlange zog den Finken nieder, und ich war sehr be— 
gierig, zu erfahren, was sie nun wohl mit ihm thun würde. Das 
sollte ich bald sehen. Die Schlange warf sich an die Erde, rollte 
sich in ein Knäuel zusammen und versuchte, den Vogel mit ihrem 
Leibe zu umschlingen. Das gelang ihr aber nicht; denn der Vogel 
flatterte so heftig, so gewaltsam umher, daß er immer wieder den 
glatten Ringen ihres Leibes entschlüpfte. Die Versuche dauerten eine 
geraume Zeit. Endlich mochte sie einsehen, daß sie ihn so nicht über⸗ 
ültigen könne; sie versuchte etwas Besseres. Sie schleppte ihre 
Beute, die gar kläglich schrie, nach einem Stamme des Strauches 
Dicht an diesen legte sie ihren Kopf mit dem Vogel, wickelte nun 
ihren Leib um den Stamm und um den Finken zugleich, und zer⸗ 
drückte ihn indem sie sich zusammenschnürte. Noch einige Male zappelte 
und piepte der Vogel so kläglich, daß mir das Herz im Leibe weh 
that, dann war er tot. Nun legte die Räuberin die sichere Beute 
auf den Boden und fuhr öfters mit dem Kopfe auf derselben umher, 
gerade wie es eine Spinne mit der gefangenen Fliege macht, wenn 
sie dieselbe mit ihren Fäden umschlingt. Sie bedeckte den Vogel 
mit einem weißlichen Schleime, wie dies alle Schlangen machen, 
damit die Beute, die sie nicht zerreißen können, leichter in ihren 
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