Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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suchten, auf und ab und lauschten der Musik, die vom Kurhause 
fröhlich herüberschallte. Unter den Spaziergängern befand sich auch 
ein Herr, der von allen Seiten ehrfurchtsvoll begrüßt wurde und 
deshalb einen einsamen Weg wählte, um sich hier ungestört in der 
schönen Gottesnatur zu ergehen. 
Da fühlte er, daß ihn jemand am Rockschoße festhielt, und er er¬ 
blickte ein kleines Mädchen, das ihn mit bittender Gebärde anschaute. 
„Wer schickt dich hierher zum Betteln, mein liebes Kind?" fragte 
der Fremde. 
„Meine kranke Mutter!" entgegnete die Kleine. 
„Hast du denn keinen Vater?" 
„Nein," antwortete das Mädchen unter Tränen, „mein Vater 
ist tot, und jetzt müssen wir hungern." 
„Nun, so führe mich zu deiner Mutter!" sprach der Fremde 
und begleitete das Mädchen, das ihn durch mehrere Gassen bis zu 
einer ärmlichen Hütte führte. 
„Hier ist unsere Wohnung," sagte das Kind, und beide stiegen 
zwei enge, dunkle Treppen hinauf bis zu eitler Bodentür, welche 
von der Kleinen geöffnet wurde. Sie kamen in eine steine Dach¬ 
kammer, in welcher eine kranke Frau lag. 
„Ach, lieber Herr Doktor," sagte die Arme, „gewiß hat meine 
Tochter Sie heimlich hierhergeholt. Aber nehnten Sie es nicht 
übel, ich habe keinen Heller zur Bezahlung." 
Der freulde Herr aber sagte feinem Diener, der ihm gefolgt 
war, leise einige Worte, worauf derselbe sich entfernte. Dann fragte 
er: „Haben Sie keinen Angehörigen, der für Sie sorgt?" 
„Nein," erwiderte die Frau, „ich habe keine Verwandten, nnb 
meine Wirtsleute sind auch arm. Mein Mann war Arbeiter, und 
solange er lebte, haben wir nicht Mangel gehabt; seit seinem Tode 
tst es mir aber nicht gelungen, mich und die Kleine zu ernähren. 
Obgleich ich Tag und Nacht arbeitete, war der Verdienst doch zu 
gering, und nun liege ich krank, und das Elend ist um so größer." 
Bei dieser Rede wurden dem Fremden die Augen feucht; er 
reichte deui Mädchen ein Geldstück nnb sprach: „Eile und hole Brot 
und Wein." 
Voll Freude lief das Kind die Treppeir hinunter und kehrte 
bald mit einem Brot nnb einer Flasche Wein zurück. 
„Das möge Ihnen Gott tausendmal lohnen," sagte die Frau
	        
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