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160. Der Stieglitz.
„Ach, wie kalt ist es heute!“ sagte Franziska, als sie aus der Strick—
stunde nach Hause kam, und lief zum Ofen hin, sich die erstarrten
Hände zu erwärmen. Auch ihr Bruder Julius trat mit gefrorner Nase
und roten Ohren in die Stube, schleuderte mit den Armen und klagte
über Kribbeln in den Händen und Füßen. — „Der Schnee knittert
ordentlich bei jedem Schritte,“ sagte er, „man wagt sich kaum noch hin—
aus auf die Straße.“
Er sprach noch, da hörten die Kinder plötzlich ein Geräusch am
Fenster. — Pick! pick! pickl ging es, als ob jemand daran klopfte.
Sie gingen hin und erblickten ein wunderniedliches Vögelchen, das sich
mit den kleinen Füßchen an das Fensterbrett geklammert hatte und mit
dem Schnabel an die Scheibe pickte. Es zitterte vor Kälte und blickte
gar beweglich in die Stube.
„Du lieber Gott,“ rief Franziska, „wie das arme Tierchen friert!
Schnell will ich es hereinlassen.“ — Sie öffnete das Fenster, und ganz
ohne Scheu, vor Freude zwitschernd, flatterte der Vogel in die behaglich
geheizte Stube, flog ein paarmal darin hin und her, als ob er sich
recht durchwärmen wolle, und setzte sich dann auf den Tisch vor die
Kinder hin.
„Es ist hungrig, das arme Tierchen,“ riefen beide, und Franziska
holte eilig Brot aus dem Schranke, zerbröckelte es und gab es dem
Vogel hin. Ei, wie fiel das hungrige Geschöpfchen darüber her! In
wenigen Minuten hatte es alles bis auf das letzte Krümchen verzehrt,
und dann putzte es sich mit dem Schnabel sein buntes Gefieder.
Die Kinder hatten sich umfaßt und sahen mit fröhlichem Gesichte
dem Tierchen zu, das sie dann und wann mit hellen Augen anblickte,
wobei es ein munteres Liedchen zwitscherte — „Was mag es nur für
ein Vogel sein?“ fragte Franziska. — „Ein Stieglitz ist es,“ erwiderte
Julius. „Du kannst ihn da an den Flecken über dem Schnabel erkennen
und an den gelben Federn in den Flügeln. Er singt gewiß allerliebst.
Wir wollen ihn in den Käfig setzen und an das Fenster hängen.“
So geschah es. Sie suchten den Käfig, hingen zwei Näpfchen
daran, eins für das Futter, das andere zum Wasser, und setzten den
Stieglitz hinein. Doch ließen sie die Thür offen, damit er nach Belieben
herausfliegen konnte.
Der Stieglitz schien sich in dem Käfige ganz wohl zu fühlen, und