Full text: [Mittelklasse, [Schülerband]] (Mittelklasse, [Schülerband])

143. Waldlilie im Schnee. 
143 
Schneeflocke zu dringen vermag, auf dürren Fichtennadeln 
des Bodens, inmitten einer Rehfamilie von sechs Köpfen ist 
die blasse Kleine gesessen. 
Das Kind hatte sich auf dem Rückwege in die Wald— 
schlucht verirrt, und weil es die Schneemassen nicht mehr 
überwinden konnte, verkroch es sich zur Rast unter das 
trockene Dickicht. Und da ist es nicht lange allein geblieben. 
Als ihm die Augen zu sinken begannen, kommt ein Rudel 
Rehe an ihm zusammen, alte und junge. Und sie schnuppern 
an dem Mädchen und sie blicken es verständig und mitleidig 
an und sie fürchten sich gar nicht vor diesem Menschenkinde. 
Sie bleiben und lassen sich nieder und benagen die Bäum— 
chen und bedecken einander und sind ganz zahm. Das 
Dickicht ist ihr Winterdaheim. Am andern Tage hat der 
Schnee alles eingehüllt. Lili sitzt in der Finsternis, sie labt 
sich an der Milch, die sie den Ihren hat bringen wollen, 
und schmiegt sich an die guten Tiere, auf daß sie im Froste 
nicht ganz erstarre. 
So vergehen die bösen Stunden des Verlorenseins. 
Und da sich die Waldlilie schon hingelegt zum Sterben und 
in ihrer Einfalt die Tiere hat gebeten, daß sie zutraulich 
bei ihr bleiben möchten in der letzten Stunde, da fangen 
die Rehe jählings ganz seltsam zu schnuppern an. Sie heben 
ihre Köpfe und spitzen die Ohren, durchbrechen in wilden 
Sätzen das Dickicht und stieben davon. 
Jetzt arbeiten sich die Männer durch Schnee und Ge— 
sträuch herein und sehen mit lautem Jubel das Mädchen. 
Und Bertold, der Vater, weiß im Übermaße der Freude nichts 
zu sagen; aber Tränen rollen über seine verwitterten Wangen. 
Wo die VNot am größten, 
ist Gottes Hilfe am nächsten.
	        
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