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193. Der Löwenzahn. Von Hermann Wagner.
„AMlle Kinder pflücken gern auf dem grünen Anger die weißen wol—
ligen Köpfchen des Löwenzahns ab. Sie spielen damit und „blasen
die Laterne aus“. Da fliegen die vielen Samenkörnchen nach allen
Seiten hin. Jedes hat ein feines Stielchen und oben einen zarten
weißen Federkranz. Die Blüte war ihr Vaterhaus; jetzt geht die
Reise weithin durch die Luft. Die einen lassen sich auf der Wiese,
die andern am Wege nieder; einige ziehen sogar über den breiten
Fluß, steigen heimlich über den Zaun und schlüpfen in den ver—
schlossenen Garten. Noch andere bleiben auf der Mauer sitzen oder
siedeln sich auf den Straßen und Plätzen des Dorfes oder Städt—
chens an.
Was tut nun das Samenkörnlein, wenn seine Reise zu Ende
ist? Das braune Körnchen ist mit zarten Widerhaken besetzt; da⸗
mit haftet es in der Erde. Der Wind weht Staͤub darüber, der
Regen bringt Wasser herzu. Nun beginnt das Körnchen seine
Arbeit. Unten senkt es eine starke Wurzel in den Boden; zarte
Fasern dringen nach allen Seiten in die Erde und schaffen Nah—
rung herbei.
Bald wächst unten am Boden ein Kranz von grünen Blät—
tern, die wie die Strahlen eines Sternes rund im Kreise stehen.
Jedes dieser Blätter ist lang und schmal, an beiden Seiten einge—
schnitten und mit großen Zähnen versehen. Davon hat das Pflänz⸗
chen auch den Namen Löwenzahn erhalten. Nur sind die Zähne
weich und tun keinem Kinde etwas zuleide.
Zur goldenen Blüte führt ein runder, glatter Stengel hinauf.
Innen ist er hohl, und die Kinder können ihn leicht zu Ringen zu—
sammenbiegen und sich Ketten daraus machen; deshalb wird der
Löwenzahn auch Kettenblume genannt. Nur schade, daß der weiße
Saft, der herauströpfelt, klebrig ist und Flecken in den Kleidern
verursacht.
Die Blume des Löwenzahns ist wohl aus mehr als hundert
kleinen Blüten zusammengesetzt. Sie ist eine wahre Blütenstadt.
Eine doppelte grüne Mauer umgibt sie, nämlich der innere, an—
liegende Kelch und zahlreiche zurückgeschlagene Blättchen, die den
äußern Kelch bilden. Der weiße Blütenboden ist das Straßen—
pflaster; es ist wie von feinem Porzellan. Die einzelnen Bluten
sind die Häuser; sie sehen aus, als wären sie von purem Golde ge—
fertigt. Käfer und Bienen vergnügen sich in dieser goldenen ho—
nigreichen Stadt. Aber nur bei schönem Wetter sind ihre Tore ge—
öffnet; bei Regen und in der Nacht werden sie sorgsam verschlossen.
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