Full text: [Teil 2 = Mittelstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Mittelstufe, [Schülerband])

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222. Lebensgeschichte einer Stubenfliege. 
Von Hermann Wagner. 
E⸗ ist Winter. Von den vielen Stubenfliegen, die den Sommer 
umherflogen, ist im Zimmer nur noch eine einzige übrig. 
Sie ist Hausfreundin geworden; sie darf sich ungestört auf die 
Fliegenklappe setzen und gehört zur täglichen Tischgesellschaft. An 
der Decke, nicht weit vom Ofen, ist ihr Lieblingsplätzchen. Wer 
möchte nicht ihre Lebensgeschichte hören? 
Die Mutter unserer Fliege bewohnte den Pferdestall, und dort 
legte sie auch ihre Eier in den Dünger. Es waren ihrer achtzig. 
Eine gute Henne gibt uns höchstens jeden Tag ein einziges Ei und 
wird dann schon als fleißig gerühmt. Die Fliege war dagegen in 
einer Viertelstunde mit allen achtzig fertig. Zwölf Stunden später 
war bereits eine winzige Made ausgeschlüpft. Die speiste nun Tag 
und Nacht mit ihren neunundsiebzig Geschwistern um die Wette. 
Nach vierzehn Tagen war sie ausgewachsen. Sie war zehn Milli— 
meter lang geworden, etwa so lang wie der Nagel am kleinen Fin— 
ger. Jetzt hörte sie auf zu fressen; ihre weiche, weiße Haut wurde 
hart und rotbraun; die Augen und der Mund verschwanden. Das 
Tierchen schrumpfte zusammen, ward dicker und kürzer und sah aus 
wie ein winziges Tönnchen. 
Äußerlich schien die kleine Tonne ohne Leben; im Innern aber 
arbeitete es rastlos weiter. Nach vierzehn Tagen sprang der Deckel 
des Tönnchens auf, und unsere Stubenfliege schlüpfte in ihrer vollen— 
deten Gestalt hervor. Die Flügel waren noch feucht und zusammen⸗ 
geknittert, nach einigen Stunden aber waren sie fest und glatt. Der 
Kopf hatte seine beiden großen Augen, die wiederum aus Tausenden 
von kleinen Augen zusammengesetzt waren. Durch ein fadenför— 
miges Stielchen hingen Kopf und Brust zusammen. 
So saß das neugeborene Geschöpf zunächst ein wenig still im 
warmen Sonnenscheine. Dann versuchte es seine Flügel; sie schwirr— 
ten, und mit Gesumme ging die Reise fort. Das Stubenfenster 
stand offen; der ungebetene Gast war da. 
Kaum war unsere Fliege in der Stube, so hatte sie auch schon 
entdeckt, daß auf dem Tische etwas Leckeres zu schmausen war. 
Schnell befeuchtete sie mit ihrem Rüssel ein Zuckerkrümchen und sog 
es auf, nachdem es sich aufgelöst hatte. Alss die Fliege mit ihrer 
Mahlzeit zu Ende war, putzte sie sich, hob zwei Beine geschickt auf 
den Rücken und bürstete die Flügel rein, damit ja kein Stäubchen 
daranhafte. 
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