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sprach: „Wie, fluchest du mir noch dazu?“ Das Lämmlein ankwortete:
„Ich fluche dir nicht.“ Der Wolf sprach: „So hast du mir aber meine
Wiesen und Äcker abgenaget und verderbet.“ Das Lämmlein antwortete:
„Wie ist das möglich, hab' ich doch keine Zähne!“ „Ei,“ sprach der Wolf,
„und wenn du gleich viel ausreden und schwätzen kannst, will ich dich den⸗
noch heut' nicht ungefressen lassen,“ und würgete also das unschuldige
Lämmlein und fraß es. Lutber.
63. Der Kranich und der Wolf.
Da der Wolf einstmals ein Schaf gierig fraß, blieb ihm ein Bein
im Halse stecken, davon er große Not und Angst hatte; er erbot sich, groß
Lohn und Geschenk zu geben, wer ihm hülfe. Da kam der Kranich, stieß
seinen langen Schnabel dem Wolfe in den Rachen und zog das Bein
heraus. Da er aber den verheißenen Lohn forderte, sprach der Wolf:
„Willst du noch Lohn haben? Danke du Gott, daß ich dir den Hals nicht
abgebissen habe. Du solltest mir danken, daß du lebendig aus meinem
Rachen gekommen bist.“ Luther.
64. Hinz und Kunz.
Hinz: Was meinst du, Kunz, wie groß die Sonne sei?
Kunz: Wie groß, Hinz? Wie ein Straußenei.
Hinz: Du weißt es schön, bei meiner Treu'!
Die Sonne wie ein Straußenei!
Kunz: Was meinst du denn, wie groß sie sei?
Hinz: So groß, hör'! wie ein Fuder Heu.
Kunz: Wer dächte, daß es möglich sei?
Potztausend! Wie ein Fuder Heu!
M. Claudius.
65. Der junge und der alte Hirsch.
Ein Hirsch, den die gütige Natur Jahrhunderte hatte leben lassen,
sagte einst zu einem seiner Enkel: „Ich kann mich der Zeit noch sehr wohl
erinnern, da der Mensch das donnernde Feuerrohr noch nicht erfunden
hatte. — „Welche glückliche Zeit muß das für unser Geschlecht gewesen
sein!“ seufzte der Enkel. — „Du schließest zu geschwind,“ sagte der alte
Hirsch. „Die Zeit war anders, aber nicht besser. Der Mensch hatte da
anstatt des Feuerrohrs Pfeile und Bogen, und wir waren ebenso schlimm
daran als jetzt.“ Lessing.