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Stube eine alte Frau sitzen, die gar bitterlich weinte und die Hände
über einem Gebetbuche faltete.
„Was fehlt dir, gutes Mütterchen?“ fragte er, „warum weinst
du und tust so kläglich?“
„Ach, Gott erbarme sich!“ schluchzte sie, „jetzt verkaufen sie auf
dem Rathause mein Häuslein, weil ich meine Schulden nicht bezahlen
kann. Ich soll hinaus, du lieber Gott! und weiß nicht, wohin. Ich
arme, alte, kranke Frau! Wer wird mich aufnehmen, wenn es Gott
nicht tut? O, wenn ich doch lieber gestorben wäre, dann könnten sie
ja die Hütte nehmen, die harten Menschen!“
„Sei ruhig, gute Mutter,“ sprach der edle Mann, „dein Haus
soll dir kein Mensch nehmen. Ich habe es gekauft und schenke es
dir wieder. Von meinem Kaufgelde werden deine Schulden bezahlt
werden, und du kannst in Frieden leben. Erlaubst du aber, so will
ich mir in deinem Hause ein kleines Stübchen zurecht machen lassen,
und so oft ich nach Northeim komme, will ich bei dir wohnen.“
Bormann.
18. Die Umgebung des Wohnortes.
169. Die Reise in die Abendröte.
Schon als Kind hätte ich gern weit und hoch fliegen mögen
und hatte doch keine Flügel. Als ich etwa fünf Jahre alt war, da
sah ich mehrmals von dem Berge, auf welchem unsere Kirche steht,
und von meines Vaters Garten der Abendröte zu, wie sie, gleich
einem Himmelsgarten voller Rosen, hinter den Tannenwäldern der
westlichen Gebirge stand. Mir war es, als müßten dort die Engel
sein, welche singen: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ Und wenn man
bis an den Tannenrand und in die Abendröte hineinginge, da müßte
man die Engel singen hören. Darum beschloß ich eines Abends, in
die Abendröte und in die untergehende Sonne hineinzuwandern. Ich
mochte aber die Reise nicht allein machen, sondern bewog das Söhn—
lein unseres Nachbars, daß es die Reise mitmache, indem ich ihm
mein ganzes Abendbrot zum Lohne gab. Solange der Kleine an
dem Butterbrote zu essen hatte, ging er willig hinter mir her; als
aber das Brot verzehrt war und die Abendröte immer weiter von
uns wegschien, fing mein Reisegefährte an zu zagen und wollte durch—