Full text: Die Heimat (3 = 4. Schuljahr, [Schülerband])

1609 
andern: „Wie dumm doch die Menschen hier sind solch schönes Holz 
uberstaͤndig werden zu lassen! Was gäbe das für Bretter und Bohlen, 
über 100 Fuß langes Nutzholz, die Spitze viermal geschnitten noch Brenn— 
holz, die Rinde zwei Wagen Lohe, und Reisig und Stöcke müßten das 
Arbeits- und Fuhrlohn bezahlt machen. Sind doch wahrhaftig die 
Wurzeln mannsdick und die Aeste wie bei uns die Kiefernstämme!“ 
„Ach Gott, wenn doch der alte Baum dürr werden wollte!“ sagte 
eine alte Frau, die mühsam eine Tracht dürrer Reiser zusammengelesen 
hatte und unter der Fichte ruhte. „Wenn er einginge, so ganz nach und 
nach, ein Ast nach dem andern, und jeder Ast wäre für mich, daß ich 
alles allein bekäme und die Spitze auch und etliche morsche abgebröckelte 
Stücke vom Stamme, — ach, wie viele Winter wollte ich mich daran 
wärmen!“ Dumpf brauste die alte Fichte und schüttelte ihre Zweige, 
gleichsam als schaudere sie vor solch elendem Untergange. 
Da kamen auch zwei Kinder des Weges, die blieben vor der Fichte 
stehen, beugten ihre Neinen Köpfe weit zurück, daß sie bis an die Spitze 
des mächtigen Baumes sehen konnten. Und das kleine Mädchen sagte zum 
Bruder: „Ach, wenn das ein Christbaum wäre, wie herrlich und schön! 
Ja, einen solchen Baum wünschte ich mir zu Weihnachten. Da könnte 
ich Aepfel und Nüsse und süßes Zuckerzeug in Körben forttragen und den 
ganzen Winter davon zehren, und du, lieber Bruder, solltest auch eine ganze 
Schuͤrze voll bekommen. Und Lichter müßten daran sein, so viel als Sterne 
am Himmel sind.“ Da ließ ein munteres Eichhörnchen einen Fichten— 
zapfen fallen, den hoben die Kinder jubelnd auf und freuten sich, als 
sie noch mehrere davon fanden. 
Albs der Platz wieder leer war von Menschen, da kam ein Raben— 
paar geflogen, das hatte sein Nest hoch oben in der Spitze. 
O, die lurzsichtigen, eigennützigen Menschen! Erfreute der schöne 
Baum nicht Tausende von Menschen, die des Weges kamen, seit mehr 
als einem Menschenalter? Gab er nicht vielen Schutz bei Regen und 
bei Sonnenbrand? Zeigt er nicht die Richtung des Weges schon in weiter 
Ferne? Baute nicht so manches Buchfinkenpaar sein moosiges Nest zwischen 
Stamm und Aeste, daß es niemand sehen kann, der Zaunkönig seine 
hohle Kugel von Moos in die Gabeln der Aeste, das kleine Goldhähnchen 
aͤn die Spitzen der schwankenden Zweige, Specht und Meise in seine 
Höhlungen, während der Rabe die weitsehende Spitze beherrscht und das 
Eichhörnchen sich auf dem verlassenen Neste seine warme Mooswohnung 
für den Winter baut? Finden nicht Scharen von Meisen und andern 
kleinen Vögeln täglich Nahrung an den kleinen Feinden des mächtigen 
Baumes, Eichhörnchen, Kreuzschnäbel und andere Vögel an den zahlreichen 
Samen? Flogen nicht die geflügelten Samenkörner weit umher und er— 
zeugten einen andern Wald von jungen Bäumen? Hat nicht die Fichte 
Recht und Beruf zu leben, auch ohne den Menschen zu nützen? Schuf 
sie die Natur nur für den gewinnsüchtigen Menschen? Wie — wenn nun 
der schöne Stamm bald fallen müßte, zu Brettern geschnitten würde, und 
aus den Brettern Särge gemacht würden für diesenigen, welche sich in 
den Besitz des Baumes so wünschten? 
Hermann Jäger.
	        
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