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„Wer schickt dich betteln, mein Kind?“ fragte der Fremde.
Meine kranke Mutter!“ antwortete die Kleine.
„Wo ist dein Vater?“
Der ist tot. — Ach, uns hungert so sehr!“ setzte sie schluchzend hinzu.
Der Herr, der schon seine Börse gezogen hatte, steckte sie wieder ein.
„Führe mich zu deiner Mutter, Hleine!“ sagte er und folgte dem
Mädchen, das ihn durch mehrere Straßen und Gäßchen bis zu einem kleinen,
baufälligen Hause führte.
„Hier wohnen wir, Herr!“
10 Sie schritten zwei schmale, alte, knarrende Treppen hinan. Dann öffnete
die Kleine äine Bodenthür, und der Herr hatte nun einen Einblick in eine
halbfinstere, unheimliche Dachkammer; der Verschlag war feucht und kalt, und in
der Ecke lag auf ärmlichem Lager eine junge Frau, der das Unglück in den
Augen zu lesen war. Sie richtete sich stöhnend auf, als der Fremde eintrat.
16 „S, Herr Doktor,“ sagte sie, „es ist nicht recht, daß meine Tochter Sie
heimlich gerufen hat. Ich habe keinen Heller und kann nichts bezahlen.“
Ver fremde Herr winkte einen Diener herbei, der ihm gefolgt war, und
sagte ihm einige Worte, worauf dieser sich sogleich entfernte.
„Haben Sie niemanden, der für Sie sorgt?“ fragte er dann.
20 Ich habe keinen Verwandten, der sich um mich kümmern könnte, und meine
Wirtsleute sind selber arm. Mein Mann war Arbeiter. So lange er lebte, ging
es uns gut; seit er tot ist, habe ich Tag und Nacht gearbeitet, um uns zu
ernähren. Dann wurde ich krank, und so kamen wir in Not und Elend.“
Der Herr gab dem Mädchen Geld. „Geh, hole Brot und Wein!“
25 Schnell eilte das Mädchen davon und kehrte bald mit freudestrahlendem Gesicht
zurück, ein Brot im Arme und eine Flasche Wein in der Hand.
„Das lohne Ihnen Gott!“ sagte die Frau mit Thränen in den Augen.
Da trat ein Arzt ein, den ein Diener herbeigerufen hatte. Ehrfurchtsvoll
verneigte er sich vor dem fremden Herrn, der diesen Augenblick benutzte, um still eine
30 Kassenanweisung auf den Tisch zu legen und sich dann unvermerkt zu entfernen.
Der Arzt untersuchte den Zustand der Kranken, gab seine Verordnungen
und bemerkte, daß er seinen Besuch jeden Tag wiederholen werde. Wegen
der Zahlung dürfe sie sich keine Sorge machen, zumal er sogar die Anweisung
habe, die Rechnung in der Apotheke zu bezahlen.
„Wer war der Fremde?“ fragte die Frau. „Ich hielt ihn für einen Arzt.“
„Das war der Kronprinz von Preußen!“
Da faltete die Frau still ihre Hände und richtete ein Dankgebet aus
innigem Herzen zu dem, der die Geschicke der Menschen zum besten lenkt.
297. Aus Kaiser Wilhelms II. Jugend.
(B. Rogge.)
L
n
Kronprinz Friedrich Wilhelm, der nachmalige Kaiser Friedrich, beschloß
im Verein mit seiner Gemahlin Viltoria, seine Söhne in den entscheidenden
Jahren der leiblichen und geistigen Entwickelung den Zerstreuungen des Hofes
zu entziehen. Er wollte ihnen den zwanglosen Verkehr mit gleichalterigen
45 Jünglingen ermöglichen und ihnen zugleich die Vorteile des gemeinsamen