57
79. Die Sonne und der Wind.
Einst strikten sich die Sonne und der Wind, wer von ihnen beiden
der Stärkere sei. Sie wurden einig, derjenige solle dafür gelten, der
einen Wanderer, den sie eben vor sich sahen, am ersten uötigen würde,
seinen Mantel abzulegen.
Sogleich begann der Wind zu stürmen. Regen und Hagelschauer
unterstütten ihn. Der arme Wanderer jammerte, aber immer fester
wickelle er sich in seinen Mantel ein und setzte seinen Weg fort, so gut
er konnte.
Jetzt kam die Reihe an die Sonne. Mit milder und sanfter Glut
ließ sie ihre Strahlen herabfallen. Himmel und Erde wurden heiter;
die Lüfte erwärmten sich. Der Wanderer vermochte den Mantel nicht
länger auf seinen Schultern zu erdulden. Er warf ihn ab und erquickte
sich im Schatten eines Baumes, indes die Sonne sich ihres Sieges
erfreute.
80. Ein Sommerabend.
Die Sonne sinkt immer tiefer am Horizonte und verschwindet endlich
ganz, um die Bewohner der andern Erdhälfte mit ihrem freundlichen
Lichte zu beglücken. Da, wo sie untergeht, ist der Himmel sanft gerötet,
gleichsam als wollte sie uns beim Abschiede noch einmal erfreuen und
grüßen. Allmählich geht nun das Licht des Tages in Dämmerung über,
und eine erfrischende Kühle tritt an die Stelle der ermattenden Hitze.
Die Pflanzen, welche im Laufe des Tages nach Erquickung schmachteten,
richten jetzt ihre Blätter wieder empor, denn ein erfrischender Tau gibt
ihnen die nötige Stärkung. Alles schickt sich nun zur Ruhe an. Der
Hirt zieht mit seiner Herde heim, die Vögel suchen ihr Nest, und das
Wild des Waldes schlüpft in seine Höhlen. Schmetterlinge und Käfer
suchen in Blumenkelchen oder unter Blättern eine sichere Ruhestätte, und
auch der Landmann kehrt heim von der Arbeit, um im Kreise der Seinigen
auszuruhen.
Friedlich erkönt durch die herrschende Stille in der Natur das Abend⸗
geläute und erinnert uns Menschen an die Pflicht, Gott für alle Wohl⸗
shaten zu danken, mit welchen er im Laufe des entschwundenen Tages
seine Kinder erfreute.
Immer dunkler wird es nun um uns her. Die Nacht bricht herein,
und mit ihr ziehen freundlich glänzende Sterne und der schimmernde
Mond am Himmel herauf, um die Finsternis zu erhellen und dem ein—