221. Der Löwe und die Maus.
Der Löwe schlief in seiner Höhle; um ihn her spielte eine lustige
Maäuseschar. Eine derselben war eben auf einen hervorstehenden Felsen
gekrochen, fiel herab und erweckte den Löwen, der sie mit seiner gewaltigen
Tatze festhielt. „Ach,“ bat sie, „sei doch großmütig gegen mich armes,
unbedeutendes Geschöpf! Ich habe dich nicht beleidigen wollen; ich habe
nur einen Fehltritt gekhan und bin vom Felsen herabgefallen. Was
kann dir mein Tod nützen? Schenke mir das Leben, und ich will dir
zeitlebens dankbar sein.“ —
„Geh' hin!“ sagte großmütig der Löwe und ließ das Mäuschen
springen. Bei sich aber lachte er und dachte: „Dankbar sein! Nun das
möchte ich doch sehen, wie ein Mäuschen sich einem Löwen dankbar be—
zeigen könnte.“
Kurze Zeit darauf lief das nämliche Mäuschen durch den Wald und
suchte Nüsse. Da hörte es das klägliche Gebrüll eines Löwen. „Der
ist in Gefahr!“ sprach es bei sich selbst und lief der Stelle zu, von wo
das Gebrüll herüber tönte. Es fand den großmütigen Löwen von einem
starken Netze umschlungen, das der Jäger künstlich ausgespannt hatte, um
damit große Waldtiere zu fangen. Die Stricke hatten sich so künstlich
zusammengezogen, daß der Löwe weder seine Zähne noch seine Tatzen
gebrauchen konnte, um sie zu zerreißen „Warte nur, mein Freund, da
kann ich dir wohl am besten helfen,“ sagte das Mäuschen. Es lief hin—
zu, zernagte die Stricke, welche die Vordertatzen des Löwen gefesselt
hielten und als diese frei waren, zerriß er das übrige Netz und ward
so durch die Hilfe des kleinen Mäuschens wieder frei.
222. Landgraf Philipp.
Landgraf Philipp wurde 1504 in Marburg geboren und war noch
nicht volle fünf Jahre alt, als sein Vater starb. In seinem 14. Jahre
trat er die Regierung an, die bis dahin teils von einer besonders ein—
gesetzten Regentschaft, teils von seiner Mutter geführt worden war. Die
Geschichte hat ihm den ehrenvollen Namen „der Großmütige“ beigelegt,
welcher eigentlich bedeutet: der Herzhafte, Tapfere; allein auch in dem
Sinne, in welchem wir dies Wort heutzutage gebrauchen, verdient er ihn.
Er war ein Fürst, der zur rechten Zeit und am rechten Orte wohl ab—
und zuzuthun verstand und von seinen Unterkhanen, von denen er wohl
wußte, wie treu sie ihm waren, manches hören und ertragen konnte.
Dazu war er mildthätig und freigebig.