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A. Erzählende Prosa. II. Geschichtliche Darstellungen.
uns behielte, vor finstrer Nacht erreichen würden; zudem sei der Weg leicht zu
verfehlen, deshalb wolle er uns rathen allhier zu bleiben.
Wir antworteten: „Lieber Vater, in allen Wirthshäusern hat man uns
abgewiesen: wir müssen also aus Noth fürbaß ziehn!" Da sprach er, ob wir
auch im Wirthshaus zum schwarzen Bären gefragt hätten. Wir antworteten:
„Es ist uns nie vorgekommen; Lieber, sagt, wo finden wir dies?" Da-zeigte
er's uns ein wenig vor der Stadt. Und siehe, wie uns vorher alle Wirthe
Herberge abgeschlagen hatten, so kam hier der Wirth unter die Thür, empfing
uns und erbot sich selbst gutmüthig uns zu beherbergen und führte uns in die
Stube.
Dort fanden wir einen Mann allein am Tische sitzen, und vor ihm lag
ein Büchel; er grüßte uns freundlich, hieß uns näher kommen und zu sich an
den Tisch setzen. Denn unsere Schuhe waren so voll Schmutz, daß wir aus
Scham nicht fröhlich in die Stube eintreten konnten und uns heimlich an der
Thür auf ein Bänkli niederdrückten. Da bot er uns zu trinken, was wir ihm
nicht abschlagen konnten. Als wir so seine Freundlichkeit und Herzlichkeit er¬
kannten, setzten wir uns zu ihm, wie er geheißen, an seinen Tisch, ließen ein
Maß Wein auftragen, damit wir der Ehre wegen wiederum auch ihm zu trinken
böten. Wir vermeinten aber nicht anders, als es wäre ein Reiter, der nach
Landesgewohnheit dasaß mit einem rothen Lederkäppel, in Hosen und Wams,
ohne Rüstung, ein Schwert an der Seite, die rechte Hand auf des Schwertes
Knopf, mit der andern das Heft umfassend. Seine Augen waren schwarz und
tief, blitzend und funkelnd wie ein Stern, so daß sie nicht wohl angesehen
werden mochten.
Bald fing er an zu fragen, von wannen wir gebürtig wären. Doch gab
er sich selbst Antwort: „Ihr seid Schweizer. Woher seid ihr aus dem Schwei¬
zerland?" Wir antworteten: „Von St. Gallen." Da sprach er: „Wollt ihr
von hier, wie ich höre, nach Wittenberg, so findet ihr dort gute Landsleute,
nämlich Doctor Hieronymus Schürf und seinen Bruder, Doctor Augustin."
Wir sagten: „Wir haben Briefe an sie." Da fragten wir ihn wieder: „Mein
Herr, wißt Ihr uns nicht zu bescheiden, ob Martinus Luther jetzt zu Witten¬
berg oder an welchem Ort er sonst sei?" Er antwortete: „Ich habe gewisse
Kundschaft, daß der Luther jetzt nicht zu Wittenberg ist; er wird aber bald
dahin kommen. Philippus Melanchthon aber ist dort, er lehrt die Griechische
Sprache, Andere lehren die Hebräische. In Treue will ich euch rathen beide
zu studieren, denn sie sind nothwendig, die heilige Schrift zu verstehen." Wir '
sprachen: „Gott sei gelobt, denn so Gott unser Leben fristet, wollen wir nicht
ablassen, bis wir den Mann sehen und bören; denn seinetwegen haben wir diese
Fahrt unternommen, da wir vernahmen, oaß er das Priesterthum sammt der Messe
als einen ungegründeten Gottesdienst umstoßen will. Dieweil wir von Jugend
auf von unsern Eltern dazu erzogen und bestimmt sind, Priester zu werden, wollen
wir gern hören, was er uns für einen Unterricht geben wird und mit welchem
Fug er solchen Vorsatz zu Wege bringen will." Nach solchen Worten fragte
er: „Wo habt ihr bis jetzt studiert?" — „Zu Basel." — „Wie steht es zu
Basel?" Ist Erasmus Roterdamus noch daselbst, und was thut er?" — „Mein
Herr," sprachen wir, wir wissen nicht anders, als daß es wohl steht; auch ist
Erasmus da, was er aber treibe, ist Jedermann unbekannt und verborgen, da
er sich gar still und heimlich verbält."
Es kam uns gar fremd an oem Reiter vor, daß er von den beiden Schurs,
von Philippo und Erasmo, desgleichen von der Erforderniß beider, der Grie-