Full text: [Teil 1 = (Unterstufe), [Schülerband]] (Teil 1 = (Unterstufe), [Schülerband])

T4 — 
„Die nehmen wir mit!“ sagte der Engel. „Ich werde dir erzählen, 
warum, während wir weiterfliegen.“ 
„Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen KReller 
wohnte ein armer, kranker Knabe. Von Kindheit an war er immer 
bettlägerig gewesen; wenn er am gesundesten war, konnte er auf Krücken 
in der kleinen Stube ein paarmal auf· und niedergehen, das war alles. 
An einigen Tagen im Sommer drangen die Sonnenstrahlen während 
einer halben Stunde bis auf den Flur des Kellers, und wenn dann der 
arme Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und 
das rote Blut durch seine Finger sah, die er vor das Antlitz hielt, dann 
hieß es: „Heute ist er ausgewesen!“ Er kannte den Wald mit seinem 
herrlichen Frühlingsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars Sohn 
den ersten Buchenzweig brachte. Den hielt er über sein Zaupt und 
träumte dann, unter Buchen zu sein, wo die Sonne schiene und die 
Vögel sängen. An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Sohn 
auch Feldblumen. Unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, und 
deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und dicht am Bette an 
das Fenster gestellt. Die Blume war von einer glücklichen Hand gepflanzt; 
sie wuchs, trieb neue Schößlinge und trug jedes Jahr ihre Blumen. Sie 
wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz 
hier auf Erden. Er begoß sie und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnen- 
strahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt, 
erhielt, und die Blume verwuchs selbst in seine Träume; denn für ihn 
blühte sie, verbreitete ihren Duft und erfreute ihm das Auge. Zu ihr 
wendete er sich im Tode, als ihn der Zerr rief. 
Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen. Ein Jahr hat die Blume 
vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt. Sie wurde deshalb beim 
Umziehen in den Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies 
ist die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern 
Blumenstrauß genommen haben; denn diese Blume hat mehr Freude 
gewährt als die reichste Blume im Garten einer Bönigin.“ 
„Aber woher weißt du das alles?“ fragte das Kind, welches der 
Engel gen Zimmel trug. 
„Ich weiß es!“ sagte der Engel. ‚Denn ich war selbst der kleine 
kranke Knabe, welcher auf Krücken gingl Meine Blume kenne ich wohl!“ 
Das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels 
herrliches, frohes Antlitz hinein, und in demselben Augenblicke befanden 
sie sich in Gottes Zimmel, wo Freude und Seligkeit war. Und Gott 
drückte das tote Kind an sein Zerz; da bekam es Flügel wie der andere 
Engel und flog Zand in Zand mit ihm. Und Gott drückte alle Blumen 
an sein Zerz; aber die arme verdorrte Feldblume küßte er, und sie erhielt 
eine Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.