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„Die nehmen wir mit!“ sagte der Engel. „Ich werde dir erzählen,
warum, während wir weiterfliegen.“
„Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen KReller
wohnte ein armer, kranker Knabe. Von Kindheit an war er immer
bettlägerig gewesen; wenn er am gesundesten war, konnte er auf Krücken
in der kleinen Stube ein paarmal auf· und niedergehen, das war alles.
An einigen Tagen im Sommer drangen die Sonnenstrahlen während
einer halben Stunde bis auf den Flur des Kellers, und wenn dann der
arme Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und
das rote Blut durch seine Finger sah, die er vor das Antlitz hielt, dann
hieß es: „Heute ist er ausgewesen!“ Er kannte den Wald mit seinem
herrlichen Frühlingsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars Sohn
den ersten Buchenzweig brachte. Den hielt er über sein Zaupt und
träumte dann, unter Buchen zu sein, wo die Sonne schiene und die
Vögel sängen. An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Sohn
auch Feldblumen. Unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, und
deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und dicht am Bette an
das Fenster gestellt. Die Blume war von einer glücklichen Hand gepflanzt;
sie wuchs, trieb neue Schößlinge und trug jedes Jahr ihre Blumen. Sie
wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz
hier auf Erden. Er begoß sie und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnen-
strahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt,
erhielt, und die Blume verwuchs selbst in seine Träume; denn für ihn
blühte sie, verbreitete ihren Duft und erfreute ihm das Auge. Zu ihr
wendete er sich im Tode, als ihn der Zerr rief.
Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen. Ein Jahr hat die Blume
vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt. Sie wurde deshalb beim
Umziehen in den Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies
ist die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern
Blumenstrauß genommen haben; denn diese Blume hat mehr Freude
gewährt als die reichste Blume im Garten einer Bönigin.“
„Aber woher weißt du das alles?“ fragte das Kind, welches der
Engel gen Zimmel trug.
„Ich weiß es!“ sagte der Engel. ‚Denn ich war selbst der kleine
kranke Knabe, welcher auf Krücken gingl Meine Blume kenne ich wohl!“
Das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels
herrliches, frohes Antlitz hinein, und in demselben Augenblicke befanden
sie sich in Gottes Zimmel, wo Freude und Seligkeit war. Und Gott
drückte das tote Kind an sein Zerz; da bekam es Flügel wie der andere
Engel und flog Zand in Zand mit ihm. Und Gott drückte alle Blumen
an sein Zerz; aber die arme verdorrte Feldblume küßte er, und sie erhielt
eine Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten,