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und zieht durch die Lüfte dem Kaiser zu Hilfe. Erst wenn der Krieg
beendet ist, kehrt er wieder zurück. Der Zug geht unsichtbar durch die
Luft, und zwar nicht der Richtung der Straßen folgend, sondern quer
über Felder, Wiesen und Wälder, ja selbst durch Gebäude hindurch.
Dabei erfüllt die Luft ein Getöse wie Pferdegetrappel, Wagengerassel,
Hundegebell und Peitschengeknall; dazwischen tönt das Blasen der Hift⸗
hörner und der schauerliche Ruf: Huhu! Niemand hat den unheimlichen
Zug gesehen, dagegen wollen hunderte ihn gehört haben, und einzelne
haben die Wahrheit ihrer Behauptung sogar gerichtlich beschworen. Wo
der nächtliche Zug die Fluren durchschneidet, herrscht — so sagt man —
größere Fruchtbarkeit, und in den Wäldern läßt sich der Weg an dem
üppigeren Wachstum der Bäume erkennen. Wer war dieser Rodenstein?
Die Sage erzählt weiter: Er war ein tapferer, aber wüster und rauf⸗
lustiger Ritlker. Wenn er nicht irgendwo im Hinterhalte lag, um dem
reisenden Kaufmanne aufzulauern, saß er mit seinen Kumpanen bei
wüstem Gelage. Endlich trieben ihn die Schulden von Haus und Hof
zum Heere des Kaisers, das sich gegen die Türken in Bewegung setzte.
Bei Wien zog er durch seine tollkühne Tapferkeit die Aufmerksamkeit des
Kaisers auf sich. Dieser löste ihm zum Lohn seine verpfändeten Burgen
ein und gab sie ihm als Lehen. Rodenstein, über diese Gunst entzückt,
schwur dem Kaiser ewige Dankbarkeit. Selbst der Tod, der ihn bei
äinem wilden Ritt vor der Burg Schnellerts durch den Sturz seines
Pferdes ereilte, setzte dieser keine Grenze. Getreu seinem Schwur:
„Aus Todesschlaf und aus Grabesnacht
für Deutschland zieh' ich noch aus zur Schlacht!“
steigt er hervor aus seiner Gruft, um es dem Kaiser zu verkünden, wenn
Gefahr dem Reiche droht! —
In Wirklichkeit ist die Sage eine weit ältere, als vielfach ange—
nommen wird, und es ist unzweifelhaft, daß erst eine spätere Zeit, welcher
die Kenntnis des altgermanischen Glaubens verloren gegangen war, eine
Göttersage auf die Person eines wilden Raubritters übertrug. Die Sage
deutet zurück auf Odin, von welchem der Odenwald seinen Namen
erhalten hat. Die Namensform Wodan wird von dem altdeutschen Worte
Hatan», dai. durchbrausen, abgeleitet. Das oft gebräuchliche, Wuotan“
erinnert deutlich an unser Zeitwort „wüten“. Im Sausen und Brausen
des Windes erkannten unsere Vorfahren ihres Gottes Wesen und Wirken.
Im Sturm — glaubte man — sause der Göttervater auf seinem acht—
füßigen Schimmel, begleitet von den Geistern gefallener Helden und einer
Lesebuch IV. 2. Aufl.