Full text: Zweites Lesebuch für die unteren Mittelklassen der deutschen Volksschulen

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„Geschaffen hat mich Gott wie euch — doch nicht zu eurem Spott! 
Der mich gebildet, wird auch wissen, wozu ich werde nützen müssen! 
Er hat ja alles in der Welt auf seinen rechten Platz gestellt! Wer 
thut und leistet, was er kann, was Gott will, der hat recht gethan!“ 
Die anderen hörten, was er sprach, und dachten wohl darüber nach; 
still überlegten sie es sich und sprachen dann einmütiglich: „Hast wahr 
gesprochen, lieber Kleiner; du bist so gut wie unser einer!“ 
Enslin. 
271. Die beiden Fensterchen. 
Es sind zwei kleine Fensterlein in einem großen Haus; da schaut 
die ganze Welt hinein, da schaut die Welt hinaus. 
Ein Maler sitzet stets dabei, kennt seine Kunst genau, malt Erd' 
und Himmel dran so treu, das Blümchen auf der Au'. 
Auch was der Hausherr denkt und fleht, malt er ans Fenster an, 
daß jeder der vorübergeht, es deutlich sehen kann. 
Und freut der Herr im Hause sich, und nimmt der Schmerz ihn 
ein, dann zeigen öfters Perlen sich an beiden Fensterlein. 
Ist schönes Wetter, gute Zeit, da sind sie hell und lieb; doch wenn es 
wettert, stürmt und schneit, da werden sie gar trüb. 
Und geht des Hauses Herr zur Ruh', nicht braucht er dann ein 
Licht; dann schlägt der Tod die Laden zu, und sieh! das Fenster bricht. 
Castelli. 
272. Die goldene Dose. 
Ein Oberst zeigte seinen Offizieren, die bei ihm speisten, bei Tische 
eine neue, sehr schöne goldene Dose. Nach einer Weile wollte er eine 
Prise Tabak nehmen, suchte in allen Taschen und sagte bestürzt: „Wo 
ist meine Dose? Sehen Sie doch einmal nach, meine Herren, ob nicht 
etwa einer von Ihnen sie in Gedanken eingesteckt habe.“ 
Alle standen sogleich auf und wendeten ihre Taschen um, ohne daß 
die Dose zum Vorschein kam. Nur ein Fähnrich blieb in sichtbarer Ver⸗ 
legenheit sitzen und sagte: „Ich wende meine Taschen nicht um; mein 
Ehrenwort, daß ich die Dose nicht habe, sei genug.“ Die Offiziere 
gingen kopfschüttelnd auseinander, und jeder hielt ihn für den Dieb. 
Am anderen Morgen ließ ihn der Oberst rufen und sprach: „Die 
Dose hat sich wieder gefunden. Es war in meiner Tasche eine Naht 
aufgegangen, und da fiel die Dose zwischen dem Futter hinab. Nun 
sagen Sie mir aber, warum Sie Ihre Taschen nicht zeigen wollten, 
was doch alle übrigen Herren Offiziere gethan haben.“ 
Der Fähnrich sprach: „Ihnen allein, Herr Oberst, will ich es gern 
bekennen. Meine Eltern sind arm. Ich gebe Ihnen daher meinen 
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