Full text: Norddeutsches Lesebuch

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44. Rotkäppchen. 
ordentlich und lauf' nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, 
dann hat die kranke Großmutter nichts.“ 
Rotkäppchen sagte: „Ich will schon alles gut ausrichten“, und gab der 
Mutter die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, 
eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete 
ihm der Wolf; Rotkäppchen aber wußte nicht, was das für ein böses Tier 
war, und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rotkäppchen“, sprach er. 
— „Schönen Dank, Wolf.“ — „Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?“ — „Zur 
Großmutter.“ — „Was trägst du unter der Schürze?“ — „Kuchen und Wein; 
gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke, schwache Großmutter etwas 
zu gut thun und sich damit stärken.“ — „Rotkäppchen, wo wohnt deine Groß— 
mutter?“ — „Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei 
großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nußhecken, das wirst du 
ja wissen“, sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: „Das junge, zarte 
Mädchen, das ist ein fetter Bissen; der wird noch besser schmecken, als die Alte; 
du mußt es listig anfangen, damit du beide erschnappst.“ Da ging er ein Weil— 
chen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: „Rotkäppchen, sieh einmal die 
schönen Blumen, die rings umher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich 
glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehest ja für 
dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald.“ 
Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen 
durch die Bäume hin und her hüpften und alles voll schöner Blumen stand, dachte 
es: „Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr 
auch Freude machen; es ist so früh am Tage, daß ich doch zu rechter Zeit 
ankomme“, — sprang in den Wald und suchte Blumen. Und wenn es eine 
gebrochen hatte, meint' es, weiter hinaus stünde eine noch schönere, und lief 
danach, und lief immer weiter in den Wald hinein. Der Wolf aber ging 
geradeswegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Thür. — „Wer 
ist draußen?“ — „Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf.“ — 
„Drück' nur auf die Klinke“, rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und 
kann nicht aufstehen!“ Der Wolf drückte auf die Klinke, trat hinein und ging, 
ohne ein Wort zu sprechen, geradezu an das Bett der Großmutter und verschluckte 
sie. Dann nahm er ihre Kleider, that sie an, setzte ihre Haube auf, legte sich 
in ihr Bett und zog die Vorhänge vor. 
Rotkäppchen aber war derweil nach den Blumen gelaufen, und als es so 
viel hatte, daß es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, 
und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, daß die Thür auf— 
stand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, daß 
es dachte: „Ei! du mein Gott, wie ängstlich wird mir's heute zu Mut, und 
bin sonst so gerne bei der Großmutter.“ Es sprach: „Guten Morgen“, bekam 
aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück, 
da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gezogen und sah 
so wunderlich aus. „Ei Großmutter, was hast du für große Ohren!“ — 
„Daß ich dich besser hören kann!“ — „Ei Großmutter, was hast du für große 
Augen!“ — „Daß ich dich besser sehen kann!“ — „Ei Großmutter, was hast 
du für große Hände!“ — „Daß ich dich besser packen kann!“ — „Aber Groß—
	        
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