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95. Die überwundene Versuchung.
Johann Ferdinand Schlez.
Hans (steht plötzlich still, bückt sich und hebt etwas von der Erde). Ei,
sieh doch, Fritz, was ich da finde! Das Ding ist ordentlich schwer.
Fritz Ginsehend). Das ist ein Päckchen mit Geld; sieh, hier
steht es geschrieben: Fünfzig Taler!
Hans (hüpfend) O, welch ein Glück! Das macht für jeden
von uns fünfundzwanzig Taler. Laß uns gleich teilen!
Fritz. Du tust ja, Hans, als ob das Geld uns gehörte!
Hans (ihn verwundert ansehend). Uns gehörte? Wem gehört
es denn sonst?
Fritz. Dem, der es verloren hat!
Hans. Ja, wer weiß, wo der ist!
Fritz. Wir müssen ihn aufzufinden suchen.
Hans. Wie machen wir das denn?
Fritz. Weißt du nicht mehr, was neulich der Lehrer sagte?
Wir tragen das Geld aufs Amt; es wird dann allenthalben be—
kannt gemacht, daß Geld gefunden worden sei, und wer beweisen
kann. daß er es verloren hat, der erhält es wieder.
Hans. Und wenn sich keiner meldet?
Fritz. Dann erst dürfen wir es behalten.
Hans. Hör, Fritz, ich wollte, es meldete sich niemand.
Fritz. Das ist nicht wahrscheinlich.
Hans. Aber — könnten wir nicht —
Fritz. Nun, was denn?
Hans. — stillschweigen und tun, als ob wir nichts ge—
funden hätten; denn keiner hat uns doch — —
Fritz hn unterbrechend) Wir sollten also Diebe werden, meinst
du! Denn das würden wir, wenn wir wissentlich und absichtlich
fremdes Eigentum behielten. Nein, Hans, wenn du ein so schlechter
Junge bist, so mag ich nichts mehr mit dir zu tun haben.
Hans (erschrocken). Diebe? Nein! Wenn du das meinst — —
aber es ist doch verdrießlich — ich hatte mich schon so gefreut.
Fritz. Wir wollen uns darüber freuen, daß der Reisende
sein Geld wiedererhalten wird. Vielleicht war es ein armer Bote,
der jetzt in der größten Angst ist und sich nur damit tröstet, daß
ein ehrlicher Mensch es gefunden habe.
Hans. Es ist wahr, Fritzä Meine Gedanken waren auf
einem bösen Wege — es soll künftig nicht wieder so kommen.
(Reicht ihm die Hand.)
Fritz. „Ehrlich währt am längsten,“ sagt der Lehrer immer,
und mein Herz sagt mir, daß er recht hat.
Lesebuch fsür Mittelklassen.