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143. Die Nachtigall.
Wo diese köstliche Sängerin sich des Schutzes durch den Menschen
versichert hält, siedelt sie sich unmittelbar bei dessen Behausung an.
Im Betragen zeigt sie ein bedächtiges, ernstes Wesen. Ihre Bewegungen
geschehen mit UÜberlegung und Würde. Sie ist sehr zutraulich gegen
die Menschen. Gegen andere Vögel zeigt sie sich sehr friedfertig; auch
sieht man sie nur selten mit ihresgleichen zanken. Gewöhnlich gewahrt
man sie niedrig über dem Boden auf Zweigen sitzend. Sie hält sich
dabei ziemlich aufgerichtet, hat den Schwanz erhoben und die Flügel
tief gesenkt. Im Gezweige hüpft sie selten; wenn es aber geschieht,
dann mit großen Sprüngen. Auf dem Erdboden hält sie sich hoch—
aufgerichtet; sie springt dann in förmlichen Sätzen. Erregt irgend
etwas ihre Aufmerksamkeit, so schnellt sie den Schwanz jählings kräftig
empor. Ihr MNug ist schnell, leicht, in steigenden und fallenden Bogen.
Auf kleinen Räumen flattert sie nur. Sie fliegt nur kurze Strecken
von Busch zu Busch und am Tage nie über freie Flächen.
Der Schlag, welcher der Nachtigall vor allem unsere Zuneigung
erworben hat, übertrifft den anderer Vögel. Mit unbeschreiblicher
Anmut wechseln sanft flötende Strophen mit schmetternden, klagende
mit fröhlichen, schmelzende mit wirbelnden. Während die eine Strophe
sanft anfängt, nach und nach an Stärke zunimmt und wiederum
ersterbend endigt, werden in der andern die Töne hart und hastig
angeschlagen. Die Pausen zwischen den Strophen erhöhen die Wirkung
der bezaubernden Melodien. Man staunt bald über die Wirkung
dieser Zaubertöne, bald über ihre Fülle und außerordentliche Stärke.
Wir müssen es als ein halbes Wunder ansehen, daß ein so kleiner
Vogel imstande ist, so kräftige Töne hervorzubringen. Der Schlag
einer Nachtigall muß 20 bis 24 Strophen enthalten, wenn wir ihn
vorzüglich nennen sollen; bei vielen Schlägern ist die Abwechselung
geringer. Da die jungen Nachtigallen nur durch ältere ihrer Art
gebildet und geschult werden können, so ist es erklärlich, daß in einer
Gegend fast ausschließlich vorzügliche, in der andern aber minder gute
Sänger gehört werden.
Die Nachtigallen erscheinen bei uns in der letzten Hälfte des
April, je nach der Witterung etwas früher oder später, ungefähr um
die Zeit, in welcher der Weißdorn zu grünen beginnt. Sie reisen
einzeln des Nachts. Die Männchen kommen zuerst an, die Weibchen
etwas später. Jede Nachtigall sucht denselben Waldesteil, denselben
Garten, dasselbe Gebüsch, in welchem sie im vergangenen Sommer
lebte. Jüngere Tiere suchen sich in der Nähe der Stelle anzusiedeln,