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hand zu schaffen und darf nicht länger ausbleiben, morgen sollt ihr
mein schon gedenken.“ Damit nahm's Abschied, und die Alten legten
sich zur Ruhe. Der anbrechende Tag aber weckte sie mit Unwetter
und Sturm, Blitze fuhren am roten Himmel und Ströme Wassers
ergossen sich. Da riß oben am Joch der Fluh ein gewaltiger Fels
los und rollte zum Dorf herunter, mitsamt Bäumen, Steinen und
Erde. Menschen und Vieh, alles was Atem hatte im Dorf, wurden
begraben; schon war die Woge gedrungen bis an die Hütte der beiden
Alten; zitternd und bebend traten sie vor ihre Thüre hinaus. Da
sahen sie mitten im Strom ein großes Felsenstück nahen, oben drauf
hüpfte lustig das Zwerglein, als wenn es ritte, ruderte mit einem
mächtigen Fichtenstamm, und der Fels staute das Wasser und wehrte
es von der Hütte ab, daß sie unverletzt stand und die Hausleute
außer Gefahr. Aber das Zwerglein schwoll immer größer und höher,
ward zu einem ungeheueren Riesen und zerfloß in Luft, während jene
auf gebogenen Knieen beteten und Gott für ihre Errettung dankten.
182. Parabel.
Friedrich Rückert. Gesammelte Gedichte. 2. Aufl. Erlangen, 1836.
1. Es ritt ein Herr, das war sein Recht,
Zu Fuße ließ er gehn den Knecht;
Er reitet über Stock und Stein,
Daß kaum der Knecht kann hinterdrein;
Der Treue schleppt sich hinterher
Dem leichten Ritt und fürchtet sehr,
Zu Falle komm' er schwer.
2. „Herr! Herr!“ erschallt des Knechtes Ruf,
„Ein Nagel ging Euch los vom Huf;
Und schlagt Ihr nicht den Nagel ein,
So wird der Huf verloren sein⸗ S2
„Ei, Nagel hin und Nagel her!
Der Huf hat ja der Nägel mehr
Und hält noch ungefähr.“
3. Und wieder schallt des Knechtes Ruf.
„Herr, losgegangen ist ein Huf;
Und schlagt Ihr nicht das Eisen an,
So ist es um das Roß gethan.“ —