Full text: [Teil 1 = (2. und 3. Schuljahr), [Schülerband]] (Teil 1 = (2. und 3. Schuljahr), [Schülerband])

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dem Kupfergeld möcht' ich wohl nehmen, obgleich ich ihn auch nicht verdient 
habe, nur um meinen armen Eltern helfen zu können!“ „Du sollst ihn 
haben, mein lieber Junge, und obendrein auch die beiden andern Säcke; kehre 
nur heim; ich schicke dir bald einen Wagen mit den Schätzen nach!“ Da nahm 
der Junge seinen Wanderstab und zog heimwärts. Als er auf dem Berge an- 5 
gelangt war, wo er mit dem alten Bettler und den Vöglein seinen Aschen— 
kuchen verzehrt hatte, ruhte er wieder ein wenig aus; aber jetzt hatte er keinen 
Hunger. Er nahm sein Pfeifchen und spielte so lieblich, daß die Vöglein, die 
er früher gespeist hatte, herbeiflogen, horchten und laut mit darein sangen. 
Darauf zog er weiter und war in kurzem zu Hause und erzählte nun 10 
seinen Eltern von den Wunderdingen, die er gesehen und erlebt, und von 
den Schätzen, die ihm der alte Mann bald nachschicken werde. Seine beiden 
Brüder, die in der letzten Zeit ihren armen Vater durch ihre Faulheit und 
Bosheit in große Not gebracht hatten, hörten das alles mit an, fingen 
darauf an zu lachen und zu spotten: „Wir haben wenigstens jeder nur 15 
einen Sack voll Sand heimgebracht; du aber wirst nun gewiß eine ganze 
Fuhre Asche erhalten; es ist auch ganz recht, warum wärest du sonst der 
Aschenputtel!“ Er aber kehrte sich nicht an den Spott und war in seinem 
Herzen überzeugt, daß sein Glück wahr sei. Auf einmal hörte man, daß 
ein Wagen vor dem Hause hielt; sie gingen gleich alle hinaus; kein Mensch 20 
war beim Wagen: an der Seite des Wagens stand aber mit großen Gold— 
buchstaben: „Wagen und Gespann und die drei Säcke mit dem Gold, Silber 
und Kupfer schickt der alte Mann seinem treuen Hirten, der ihn zuerst als 
Bettler so freundlich gespeist, der ihm dann seine Schafe wohl geweidet und 
besorgt und auch seiner lieben Vöglein sich erbarmt hat!“ Der Junge trieb 25 
nun den Wagen in den Hof und lud die Säcke ab; da war die Freude des 
Aschenputtels und seines Vaters und seiner Mutter unermeßlich. Diese 
bereuten es nun und schämten sich, daß sie ihren Jüngsten nicht so wie die 
ältern Söhne geliebt hatten, und baten ihn um Verzeihung. Er aber sprach: 
„Höret auf; ich habe ja doch alles euch zu verdanken!“ Aber die beiden 30 
älteren Brüder konnten das große Glück ihres jüngern Bruders nicht er— 
tragen, sie liefen fort, und kein Mensch hat sie weiter gesehen noch gehört, 
was aus ihnen geworden. 
Der Aschenputtel aber war nun ein reicher Mann und lebte noch viele 
Jahre mit seinen Eltern glücklich und zufrieden und stiftete mit seinem Reich-⸗ 35 
tum viel Gutes. An schönen Tagen nahm er oft sein Pfeifchen und ging auf 
einen Berg und spielte und horchte auf den Gesang der Vögel. Da zogen die 
alten Erinnerungen aus seinem Hirtenjahr vor seiner Seele vorüber, und 
wenn er am seligsten war, so schien es ihm, als wäre er in jener großen 
Kirche und sehe die stille Pracht um sich und das Goldvöglein flöge hernieder 40 
auf seine Schulter und singe den wunderlieblichen Gesang: „Mit dir ist Gott!“ 
goseph Haltrich. (Deutsche Vollsmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen.) 
———— 
Schumann-Meinlke, Lesebuch A. J. 
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