Full text: [Theil 1 = Für untere Klassen, [Schülerband]] (Theil 1 = Für untere Klassen, [Schülerband])

92 144. Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes 
144. Der Gerechte erbarmet sich seines Viehes. 
AW gegen Thiere soll der Mensch nicht undankbar sein, wie jener Kauf— 
mann in der Stadt Wineta, den sein Schimmel wegen Undanks ver— 
klagte. — Der Schimmel hatte dem Herrn schon viele Jahre treu gedient und 
ihm einmal sogar durch seine Schnelligkeit das Leben gerettet, als er in einem 
Walde von Raͤubern überfallen wurde. Der Kaufmann that deshalb ein 
Gelübde, er wolle den Schimmel niemals verstoßen und ihn aufs beste verpfle— 
gen, so lange er leben werde. Weil aber der Schimmel auf seiner Flucht vor 
den Raͤuberu sich sehr erhitzt hatte, so ward er bald darauf erst steif und lahm 
und endlich auch blind, und der Kaufmann vergaß seiner Dienste, so wie seines 
eigenen Gelübdes. Erft ließ er das Pferd bei kärglichem Futter darben, und 
weil ihm eine Metze Hafer täglich zu viel schien für ein Pferd, das ihm zu 
nichts mehr nütze, so befahl er seinem Kuechte, den Schimmel wegzujagen. 
Der nahm einen Stock, weil das Pferd nicht weichen wollte, und trieb es aus 
dem Stalle. Da blieb es sieben Stunden am Thore stehen mit niedergebeug— 
lem Kopfe und spitzte seine Ohren, wenn etwas im Hause sich regte. Die 
Nacht schlief es daselbst auf den harten Steinen, während es kalt war und 
schneiete. Endlich trieb der Hunger das Thier, wegzugehen; aber weil es blind 
war, stieß es überall an. Mit seiner Nase roch es links und rechts ob nicht 
ein Hälmchen Stroh da läge; doch es fand nux wenig. 
2. Es war aber in felbiger Stadt ein Glockenhaus, das stand Tag und 
Nacht offen. Man hatte es gebaut, um Unrecht zu verhindern. Denn wenn 
jemand meinte, es geschehe ihm Unrecht von einem andern, so ging er hin 
us Glockenhaus, faßte an den Glockenstrick und läutete; sogleich kamen die 
Richter der Stadt zusammen und richteten. Zufällig tappte auch der Schimmel 
in dies Glockenhaus hinein; und da er alles mit seinen Lippen berührte und 
aus Hunger mit den Zähnen alles benagte, so fand er auch den Strick, faßte 
ihn mit den Zähnen und fing an zu läuten. Sogleich kamen die Richter und 
saͤhen den Schimmel als Kläger. Da sie wohl wußten, wie große Dienste der 
Schimmel seinem Herrn geleistet hatte, so ging ihnen die Sache zu Herzen. 
Sie ließen den Kauͤfmann sogleich herbeirufen, der sich nicht wenig wunderte, 
als er an der Klageglocke seinen Schimmel sah. Er wollte seine Hartherzigkeit 
rechtfertigen; allein die Richter sprachen mit strengem Ernste: „Der Gerechte 
erbarmet sich auch seines Viehes, aber der Gottlosen Herz ist unbarmherzig.“ 
Und sie verurtheilten den Kaufmann, den Schimmel zu pflegen bis an sein 
Ende; es ward auch ein Mann gesetzt, der bisweilen nachsah, ob der Schimmel 
keine Noth litte. An dem Glockenhause bildete man aber zum Andenken die 
ganze Geschichte in Stein ab. sSir.) 
145. Das Huhn. 
den Hausthieren giebt es vielleicht keine einfältigeren und unterwürfigeren, 
als die Hühner. Wie verlieren sie alle Fassung, wenn ein Kind an ihrem 
Haufen vorübergeht! Rathlos stürzen sie durch einander, immer und immer 
wieder gegen die Wand, die Mauer, den Holzstoß anrennend. Aber rührend 
ist auch wieder ihre stille Zufriedenheit, ihr Eifer in der Pflichterfüllung, ihre 
schlichte Einfachheit.
	        
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