Full text: Prosa (Teil 8, [Schülerband])

kräftiger als anderswo lebt in ihm das unbewußte Gefühl, daß die 
höchste Höhe menschlicher Tätigkeit nur in allmählich fortschreitender 
Arbeitsteilung, nicht aber in einer Angleichung der verschiednen Be¬ 
fähigungen zu suchen sei, die den einzelnen auf allen Gebieten etwas, 
auf keinem aber Gediegenes leisten läßt. 
Und so hat seit den ältesten Zeiten die deutsche Frau ihre besondern 
Gebiete gehabt, Gebiete, auf denen der Mann sich fremder fühlte, auf 
denen er die Frau sich überlegen sah, die er ihr deshalb ebenso willig 
überließ, wie sie ihm die seinen, und so haben im ganzen Verlauf der 
deutschen Geschichte beide Geschlechter zum Segen des Ganzen sich in 
ihrer Tätigkeit immer ergänzt, nie aber zu verdrängen gesucht. 
Besonders ist die Fürsorge für Hilfsbedürftige stets das Feld der 
Frau gewesen, wies doch die Natur sie schon mit der Kindespflege, der 
heiligsten Franenaufgabe, auf dies Wirkungsgebiet hin, und nirgends 
und niemals ist diese Pflicht treuer, selbstloser und aufopfernder aus¬ 
geübt als von der deutschen Mutter. 
Und auch, als das Volkstum über die einfachsten Verhältnisse 
hinauswuchs, als sich um alte Römersiedlungen und neue Bischofssitze 
deutsche Städte gebildet hatten, als die einzelnen sich freier von der 
Scholle lösten und sich selbständiger in die Welt stellten, dafür aber 
auch fern von der Heimat in Not, Krankheit und Alter häufiger der 
treuen Sippenhülfe entbehren mußten, da waren es wieder die Frauen, 
die es für ihre Pflicht ansahen, die Ermatteten zu laben, die Siechen 
zu pflegen und die Wunden zu heilen. 
Zwar waren in den Ackerstädtchen und Dörfern solche Liebesdienste 
nicht allzu häufig nötig; wirklich hilflose Armut wohnt nicht da, wo 
jedem sein Gärtchen Gemüse, sein Schwein Fleisch, seine Ziege Milch 
darbietet; und wo der Zug der Landfremden fehlt, wo sich Nachbar 
und Nachbar noch vertraut stehn, hilft jeder dem andern gern in seiner 
Bedrängnis. Anders war es schon in den größeren Handelsstädten, 
an den verkehrsreichen Sitzen der weltlichen und geistlichen Herrn. Die 
fromme Wohltätigkeit der Königin Edith zu Magdeburg, der Land¬ 
gräfin Elisabeth zu Marburg, der Frau Ursula Cotta zu Eisenach und 
der Frau Barbara Uttmann zu Annaberg lebt ja noch heute in Sagen 
und Liedern. 
Das Bedürfnis aber, die soziale Hilfstätigkeit in einem die 
Leistungsfähigkeit des einzelnen überschreitenden Umfang auszuüben, 
machte sich bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein nur in Kreisen fühl¬ 
bar, die verpflichtet waren, den Blick von der Sorge und Not des ein¬ 
zelnen hinweg aufs große Ganze zu richten, besonders also in den 
19*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.