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läßt er den Brief fallen und macht die üblichen Ehrenbezeu—
gungen.
Der Kaiser, der seine Angst und Verwirrung bemerkte, kam
freundlich auf ihn zugeritten und fragte: „Nun, ein Brief von
der Braut?“ „Nein, Majestät, von meinem Vater!“ erwiderte
dieser. „Darf ich den Brief lesen, oder enthält er Geheimnisse?“
fragte der Kaiser weiter. Der Soldat übergab den Brief dem
Kaiser. Dieser wandte sich zu seiner Umgebung und las unter
anderm folgendes laut vor: „In 14 Tagen hat Deine Schwester
Hochzeit, wir alle werden Dich an diesem Tage schmerzlich ver—
missen; am meisten aber grämt sich Deine alte Mutter, Dich nicht
zu sehen. Schadet aber nichts, haue nur tüchtig auf die Fran—
zosen ein, damit ihnen recht bald das große Maul gestopft werde!“
Der Kaiser gab den Brief zurück und ritt weiter. Es währte
aber nicht lange, so wurde der Soldat von seinem Posten ab—
gelöst. Er erhielt 14 Tage Urlaub und konnte auf Kosten des
Kaisers die Reise nach Mecklenburg antreten.
Bock.
129. Uneigennützigkeit.
Als einst zu Wien eine Feuersbrunst ausbrach, eilte Kaiser
Joseph schnell herbei und wagte sich zu nahe an ein brennendes
Gebäude. Ein Handwerksmann sah die Gefahr des Kaisers und
bat ihn, sich von dem Orte zu entfernen. Als Joseph aber doch
noch zögerte, ergriff ihn der Handwerksmann, hob ihn in die
Höhe und trug ihn an einen sichern Ort. Gleich darauf stürzte
das Gebäude zusammen, und die glühenden Balken fielen gerade
auf den Platz, wo der Kaiser gestanden hatte. Joseph reichte
dem Handwerksmanne sogleich seinen mit Gold gefüllten Beutel.
Der brave Mann schlug ihn jedoch aus mit den Worten: „Was
ich gethan habe, geschah aus Liebe, und die lasse ich mir nicht
bezahlen. Darf ich aber um eine Gnade bitten, so soll es für
meinen fleißigen, ehrlichen Nachbar geschehen, der so arm ist,
daß er nicht Meister werden und sich das nötige Handwerkszeug
anschaffen kann.“ Mit Freuden erfüllte der Kaiser diese Bitte.
Seinem Retter zu Ehren aber ließ er eine goldene Denkmünze
prägen.
S
ern.