Full text: Unterstufe, Oberabteilung, (5. Klasse der Berliner Gemeindeschule) (Teil 1, [Schülerband])

98 — 
„Lebt wohl, ihr Lieben, klaget nicht! 
Ade, du rosig Morgenlicht! 
Ade, du süßer Blumenduft! 
Ade, du klare Himmelsluft!“ 
Ihr Köpfchen sank herab, und sie starb. Hänschen sah, wie das 
feine, liebe Gesicht an die Brust der Königin sank. Er sah die 
Thränen und den großen Schmerz der Elfen. Ein tiefes Weh ging 
durch seine Seele; Reue ergriff ihn. Heiße Thränen drangen in 
seine Augen und rollten über seine Wangen. Aber siehe! da ver— 
klärte sich plötzlich das Gesicht der Königin. Sie übergab den 
Dienerinnen das tote Elschen, erhob sich dann und sprach in klaren, 
freudigen Tönen: 
„Wenn Morgentau auf dürre Fluren sinkt hernieder, 
dann heben sich die welken Blumen fröhlich wieder: 
Wenn Hänschens Reuethränen recht von Herzen fließen, 
kann neu das Leben unsrer teuren Schwester sprießen.“ 
Hierauf schwebte die Königin zu dem Knaben hin. In der 
Hand hielt sie ein Rosenblatt. Eine Zähre von seinen Wangen rollte 
darauf. Mit dieser kehrte die Königin zum toten Schwesterlein 
zurück. Sie besprengte ein wenig das blasse Gesichtchen, — und 
siehe, die Augen der Toten öffneten sich und blickten strahlend und 
fröhlich umher. Darauf schwebte die Königin über dem Totenhügel 
hin und her, und besprengte ihn ebenfalls mit dem Wasser der 
Thränen, indem sie sang: 
„Alle Tierlein, die der Knabe 
wild erschlug, 
alle Tierlein, die zu Grabe 
Elfchen trug, 
Käfer, Schmetterlinge, Fliegen, — 
aus den Wiegen, 
aus den Grabeswiegen kommt hervor!“ 
Augenblicklich ward es lebendig auf dem Hügel. Viele kleine Elfen 
schwebten herbei und halfen den Tierchen aus dem Boden heraus. 
Da kamen vielerlei Käfer hervor und summten lustig zwischen Bäumen 
und Sträuchern dahin. Schmetterlinge breiteten ihre Flügel aus, 
erhoben sich und flogen zu den Blumen hin, wo sie von den Elfen 
mit Honig bewirtet wurden. Freude und Jubel war überall. Die 
Elfen spielten und kosten mit den erwachten Tierchen. Hänschen aber 
blickte erstaunt die neue wunderbare Begebenheit an. Seine Thränen 
waren von lauen Lüften getrocknet worden. Er fühlte sich ganz selig. 
Eine süße Zaubermacht schläferte ihn nach und nach ein. Kaum sah 
er noch, wie die Elfen in bunten Reihen einem Baume zuschwebten, 
der inmitten einer Wiese stand. Dort wollten sie ein fröhliches Fest 
feiern mit Gesang und Tanz. — 
Es mochte eine Weile vergangen sein, da erweckte den Knaben 
der laute Ruf: „Hans! Hans!“ — Als er die Augen öffnete, sah
	        
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