Full text: Prosalesebuch für Prima (Teil 7)

Rede des Grafen Bülow anf den Fürsten Bismarck. 
417 
Ende der Wilhelmstraße gelegen, hat er nachmals die Geburtsstätte 
seiner Luftschlösser genannt. Hinter dem Bretterzaun dieses Gartens 
zeigte dem Knaben die Phantasie die ganze bunte Erde mit ihren 
Wäldern und Bürget: und allen den Erlebnissen, die seiner warteten, 
die ganze weite Welt, die dieser Knabe dereinst umgestalten sollte, 
als er nach einem Menschenalter in die Wilhelmstraße zurückkehrte und 
die größte Epoche der deutschen Geschichte begann. Nachdem er unter 
und mit Kaiser Wilhelm dem Großen in gewaltiger Energie das 
Reich ausgerichtet hatte, sicherte er diesem und der Welt in ebenso 
seltener Mäßigung und Selbstbeschränkung den Frieden. Er hat, uni 
mit Fichte zu reden, das deutsche Volk aus dem Gröbsten heraus¬ 
gehauen. Er hat, um mit seinen eigenen Worten zu reden, das deutsche 
Volk in den Sattel gehoben, was vor ihm keinem geglückt war. 
Er hat ausgeführt und vollendet, was seit Jahrhunderten das 
Sehnen unseres Volkes und das Streben unserer edelsten Geister ge¬ 
wesen war, was die Ottonen und Salier und Hohenstaufen vergeblich 
angestrebt hatten, was 1813 den Kämpfenden als damals nicht er¬ 
reichter Siegespreis vorschwebte, wofür eine lange Reihe Märtyrer 
der deutschen Idee gekämpft und gelitten hatte. Und er ist gleichzeitig 
der Ausgangspunkt und Bahnbrecher einer neuen Zeit für das deutsche 
Volk geworden. In jeder Hinsicht stehen wir auf feinen Schultern. 
Nicht in dem Sinne, als ob es vaterländifche Pflicht wäre, alles 
zu billigen, was er gesagt und getan hat. Nur Toren oder Fanatiker 
werden behaupten wollen, daß Fürst Bismarck niemals geirrt habe. 
Auch nicht in dem Sinne, als ob er Maximen aufgestellt hätte, die nun 
unter allen Umständen, in jedem Fall und in jeder Lage blindlings 
anzuwenden wären. Starre Dogmen gibt es weder im politischen noch 
im wirtschaftlichen Leben, und gerade Fürst Bismarck hat von der 
Doktrin nicht viel gehalten. Aber was uns Fürst Bismarck gelehrt 
hat, ist, daß nicht persönliche Liebhabereien, nicht populäre Augen¬ 
blicksströmungen, noch graue Theorien, sondern immer nur das 
wirkliche und dauernde Interesse der Volksgerneinschaft, die salus 
publica, die Richtschnur einer vernünftigen und fittlich berechtigten 
Politik fein darf. Was uns fein ganzes Wirken zeigt, ist, daß der 
Mensch das Schiff lenken kann, das auf dem Strom führt, nicht aber 
den Strom felbst, daß wir, wie Fürst Bismarck sich ausgedrückt hat, 
die großen Dinge nicht machen, aber den natürlichen Lauf der Dinge 
beobachten und das, was dieser Lauf zur Reife gebracht, sichern 
können. Mit andern Worten, daß es in der Politik darauf ankommt, 
in jedem Augenblick die Grenzen des Erreichbaren deutlich zu er¬ 
kennen, an die Erreichung des zu Nutz und Frommen des Landes 
Erreichbaren aber alles zu setzen. 
HHZ-, Lesebuch für Prima. 27
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.