Rede des Grafen Bülow anf den Fürsten Bismarck.
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Ende der Wilhelmstraße gelegen, hat er nachmals die Geburtsstätte
seiner Luftschlösser genannt. Hinter dem Bretterzaun dieses Gartens
zeigte dem Knaben die Phantasie die ganze bunte Erde mit ihren
Wäldern und Bürget: und allen den Erlebnissen, die seiner warteten,
die ganze weite Welt, die dieser Knabe dereinst umgestalten sollte,
als er nach einem Menschenalter in die Wilhelmstraße zurückkehrte und
die größte Epoche der deutschen Geschichte begann. Nachdem er unter
und mit Kaiser Wilhelm dem Großen in gewaltiger Energie das
Reich ausgerichtet hatte, sicherte er diesem und der Welt in ebenso
seltener Mäßigung und Selbstbeschränkung den Frieden. Er hat, uni
mit Fichte zu reden, das deutsche Volk aus dem Gröbsten heraus¬
gehauen. Er hat, um mit seinen eigenen Worten zu reden, das deutsche
Volk in den Sattel gehoben, was vor ihm keinem geglückt war.
Er hat ausgeführt und vollendet, was seit Jahrhunderten das
Sehnen unseres Volkes und das Streben unserer edelsten Geister ge¬
wesen war, was die Ottonen und Salier und Hohenstaufen vergeblich
angestrebt hatten, was 1813 den Kämpfenden als damals nicht er¬
reichter Siegespreis vorschwebte, wofür eine lange Reihe Märtyrer
der deutschen Idee gekämpft und gelitten hatte. Und er ist gleichzeitig
der Ausgangspunkt und Bahnbrecher einer neuen Zeit für das deutsche
Volk geworden. In jeder Hinsicht stehen wir auf feinen Schultern.
Nicht in dem Sinne, als ob es vaterländifche Pflicht wäre, alles
zu billigen, was er gesagt und getan hat. Nur Toren oder Fanatiker
werden behaupten wollen, daß Fürst Bismarck niemals geirrt habe.
Auch nicht in dem Sinne, als ob er Maximen aufgestellt hätte, die nun
unter allen Umständen, in jedem Fall und in jeder Lage blindlings
anzuwenden wären. Starre Dogmen gibt es weder im politischen noch
im wirtschaftlichen Leben, und gerade Fürst Bismarck hat von der
Doktrin nicht viel gehalten. Aber was uns Fürst Bismarck gelehrt
hat, ist, daß nicht persönliche Liebhabereien, nicht populäre Augen¬
blicksströmungen, noch graue Theorien, sondern immer nur das
wirkliche und dauernde Interesse der Volksgerneinschaft, die salus
publica, die Richtschnur einer vernünftigen und fittlich berechtigten
Politik fein darf. Was uns fein ganzes Wirken zeigt, ist, daß der
Mensch das Schiff lenken kann, das auf dem Strom führt, nicht aber
den Strom felbst, daß wir, wie Fürst Bismarck sich ausgedrückt hat,
die großen Dinge nicht machen, aber den natürlichen Lauf der Dinge
beobachten und das, was dieser Lauf zur Reife gebracht, sichern
können. Mit andern Worten, daß es in der Politik darauf ankommt,
in jedem Augenblick die Grenzen des Erreichbaren deutlich zu er¬
kennen, an die Erreichung des zu Nutz und Frommen des Landes
Erreichbaren aber alles zu setzen.
HHZ-, Lesebuch für Prima. 27