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Alte Märchen erzählen von Wassernixen, die im Teiche wohnten,
mitten unter Blumen und Schilf. Ihre obere Hälfte war eine liebliche
Jungfrau, die untere ein häßlicher Fischschwanz. Sie verlockten die
Menschen zum Wasser und zogen sie dann hinab ins nasse Grab. Die
Wasserjungfrauen sind verschwunden und locken nicht mehr; aber die
goldgelben Schwertlilien locken statt ihrer die Kinder zum Wasser.
Nimm dich in acht, wenn du nach den prächtigen Blüten greifst, damit
die kalte Flut dich nicht gierig verschlingt.
131. Der Hecht.
In einem Karpfenteiche lebte einmal ein Hecht, der zeitlebens mit
einem Erbübel zu kämpfen hatte, mit dem Hunger. Der macht zwar
auch manchem recht viel zu schaffen, der kein Hecht ist, aber der Hecht
war ein Nimmersatt. Schon als junger Hecht war er ein Bösewicht.
Er verzehrte nicht nur eine ganze Anahl seiner Geschwister, die kleiner
waren als er, er machte sich auch an die Gründlinge. Erst fraß er von
ihrem Laiche, und dann schnappte er auch noch dutzendweise die kleinen
Gründlinge weg, die eben erst ausgeschlüpft waren und sich umsehen wollten,
wo sie denn eigentlich wären. Als er immer größer und stärker geworden
war, wagte er sich selbst an die Karpfenbrut und fügte dem Besitzer des
Teiches großen Schaden zu. Er machte sich aber kein Gewissen daraus
und fühlte nicht mehr Reue als ein Kind, das sein Butterbrot verzehrt.
Es war nur ein Glück, daß die jungen Karpfen alljährlich zu vielen
tausenden aus den Eiern krochen, sonst hätte der Räuber die Karpfenbrut
rein aufgefressen. Die Karpfen konnten dem Hechte nichts anhaben; sie
hatten weder ein so großes, flaches Maul wie er, noch so gewaltige
Reihen scharfer, spitzer Zähne; sie waren gutmütig und nährten sich
friedlich. Aus dem Schlamme des Grundes machten sie sich ihre Mahl—
zeiten zurecht, und nur an Festtagen verzehrten sie ein Würmchen und
etwas Gras als Gemüse dazu.
Viele Jahre lang hatte der Hecht im Karpfenteiche sein Wesen ge—
trieben; er war immer älter, aber auch immer frecher geworden. Ein—