Goethe: Das Rheingau.
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quellenden Röhrwasser; dieses ist der Marktbrunnen, von welchem der
ans der Hügelstrecke gewonnene Wein seinen Namen hat.
Die Mauer hört auf, die Hügel verflachen sich, ihre sanften Seiten
und Rücken sind mit Weinstöcken überdrängt. Links Fruchtbäume. Nah
ant Fluß Weidichte, die ihn verstecken. —
Vor Geisenheim erstreckt sich ein flaches, niederes Erdreich bis an
den Strom, der es wohl noch jetzt bei hohem Wasser überschwemmt; es
dient zu Garten- und Kleebau. Die Aue im Fluß, das Städtchen am
User ziehen sich schön gegeneinander; die Aussicht jenseits wird freier.
Ein weites, hüglichtes Tal bewegt sich zwischen zwei ansteigenden Höhen
gegen den Hunsrück zu.
Wie man sich Rüdesheim nähert, wird die niedere Fläche links
immer auffallender, und tnan faßt den Begriff, daß in der Urzeit, als
das Gebirge bei Bingen noch verschlossen gewesen, das hier aufgehaltene,
zurückgestauchte Wasser diese Niederung ausgeglichen und endlich, nach
und nach ablaufend und fortströmend, das jetzige Rheinbett daneben
gebildet habe.
Und so gelangten wir in weniger als viertehalb Stunden nach
Rüdesheim, wo uns der Gasthof zur Krone, unsern des Tores anrnutig
gelegen, sogleich anlockte.
Er ist an einen alten Turm angebaut und läßt aus den vorderen
Fenstern rheinabwärts, aus der Rückseite rheinailfwärts blicken; doch
suchten wir bald das Freie. Ein vorspringender Steinbau ist der Platz,
wo man die Gegend am reinsten überschaut. Flußaufwärts sieht man
von hier die bewachsenen Auen in ihrer ganzen perspektivischen Schönheit,
unterwärts am gegenseitigen Ufer Bingen, weiter hinabwärts den Mäuse¬
turm im Flusse.
Von Bingen heraufwärts. erstreckt sich, nahe am Strom, ein Hügel
gegen das obere flache Laitd. Er läßt sich als Vorgebirg in den alten
höheren Wassern denken. An seinem östlichen Ende sieht man eine Kapelle,
dem heiligen Rochus gewidmet, welche soeben vom Kriegsverderben
wiederhergestellt wird. An einer Seite stehen noch die Rüststangen;
dessenungeachtet aber soll morgen das Fest gefeiert werden. Man glaubte,
wir seien deshalb hergekommen, und verspricht uns viele Freude.
Und so vernahmen mir denn, daß während der Kriegszeiten, zu
großer Betrübnis der Gegend, dieses Gotteshaus entweiht und verwüstet
worden. Zwar nicht gerade aus Willkür und Mutwillen, sondern weil
hier ein vorteilhafter Posten die ganze Gegend überschaute und einen
Teil derselben beherrschte. Und so war das Gebäude denn aller gottes¬
dienstlichen Erfordernisse, ja aller Zierden beraubt, durch Biwaks an¬
geschmaucht und verunreinigt, ja durch Pferdestallung geschändet.
Deswegen aber sank der Glaube nicht an den Heiligen, welcher die
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