Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

435 Neudeutsche Literatur. 
fing von dem herrlichen Anblicke an, den menschliche Sinne nur immer vor— 
legen und unser Verstand in ihrem weiten Umfange zu verfolgen nur immer 
peltragen kann, und endigte — mit der Sterndeutung. Die Moral fing mit 
der edelsten Eigenschaft in der menschlichen Natur an, deren Entwickelung und 
Kultur auf unendlichen Nutzen hinaussieht, und endigte — mit der Schwär— 
merei oder dem Aberglauben. So geht es allen noch rohen Versuchen, in 
denen der vornehmste Theil des Geschäftes auf den Gebrauch der Vernunft 
ankommt, der nicht so wie der Gebrauch der Füße sich von selbst vermittelst 
der öfteren Ausübung findet, vornehmlich wenn er Eigenschaften betrifft, die 
sich nicht so unmittelbar in der gemeinen Erfahrung darstellen lassen. Nach⸗ 
dein aber, wiewohl spät, die Maxime in Schwang gekommen war, alle Schritte 
vorher wohl zu üͤberlegen, die die Vernunft zu thun vorhat, und sie nicht 
anders als im Gleise einer vorher wohl überdachten Methode ihren Gang 
machen zu lassen, so bekam die Beurtheilung des Weltgebäudes eine ganz 
andere Richtung und mit dieser zugleich einen ohne Vergleichung glücklicheren 
Ausgang. Der Fall eines Steins, die Bewegung einer Schleuder, in ihre 
Elemente und dabei sich äußernde Kräfte aufgeloöst und mathematisch bearbeitet, 
brachte zuletzt diejenige klare und für alle Zukunft unveränderliche Einsicht in 
den Weltbau hervor, die bei fortgehender Beobachtung hoffen kann, sich immer 
nur zu erweitern, niemals aber zurückgehen zu müssen fürchten darf. Diesen 
Weg nun in Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur gleichfalls 
inzuschlagen, kann uns jenes Beispiel anräthig sein, und Hoffnung zu ähn— 
lichem guten Erfolg geben. Wir haben doch die Beispiele der moralisch 
uriheilenden Vernunft bei Hand. Diese nun in ihre Elementarbegriffe zu ver— 
gliedern, in Ermangelung der Mathematik aber ein der Chemie ähnliches Ver— 
fahren der Scheidung des Empirischen vom Rationalen, das sich in ihnen 
porfinden möchte, in wiederholten Versuchen am gemeinen Menschenwerstande 
vorʒunehmen, kann uns beides rein, und was jedes für sich allein leisten könne, 
mit Gewißheit kennbar machen, und so theils der Verirrung einer noch rohen 
ungeübten Beurtheilung, theils (welches weit nöthiger ist) den Genieschwün— 
gen vorbeugen, durch welche, wie es von Adepten des Steins der Weisen zu 
geschehen pflegt, ohne alle methodische Nachforschung und Kenntniß der Natur 
geträͤumte Schätze versprochen und wahre verschleudert werden. Mit einem 
Worte: Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge 
Pforte, die zur Weisheitslehre führt, wenn unter dieser nicht bloß verstanden 
wird, was man thun, sondern was Lehrern zur Richtschnur dienen soll, um 
den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bah— 
nen und andere vor Irrwegen zu sichern; eine Wissenschaft, deren Aufbe— 
wahrerin jederzeit die Philosophie bleiben muß, an deren subtiler Unter— 
suchung das Publikum keinen Antheil, wohl aber an den Lehren zu nehmen 
hat, die ihm nach einer solchen Bearbeitung allererst recht hell einleuchten können. 
Aphorismen. 
Der Mensch nimmt nicht eher Antheil an Andrer Glück oder Unglück, 
als bis er sich selbst zufrieden fühlt; macht also, daß er mit Wenigem zu— 
frieden sei, so werdet ihr gütige Menschen machen. 
Ich kann Niemand besser machen als durch den Rest des Guten, das 
in ihm ist; ich kann Niemand klüger machen als durch den Rest der Klug— 
heit, die in ihm ist. 
Obgleich es wohl einen Nutzen der Religion geben kann, der unmittel—
	        
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