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Christian Fürchtegott Gellert,
geb. 4. Juli 1716 zu Hainichen in Sachsen, gest. 13. Dezbr. 1769 als Professor in Leipzig.
9. Der Prozeß.
Ja ja, Prozesse müssen sein!
Gesetzt sie wären nicht auf Erden,
wie könnt alsdann das Mein und Dein
bestimmet und entschieden werden?
Das Streiten lehrt uns die Natur.
Drum, Bruder, recht und streite nur
du siehst, man will dich übertäuben;
doch gib nicht nach, setz alles auf
und laß dem Handel seinen Lauf.
Denn Recht muß doch Recht bleiben,
„Was sprecht ihr, Nachbar? Dieser Rain
der sollte, meint ihr, euer sein?
Nein, er gehört zu meinen Hufen.“
„Nicht doch, Gevatter, nicht, ihr irrt;
ich will euch zwanzig Zeugen rufen,
von denen jeder sagen wird,
daß lange vor der Schwedenzeit ⸗ —
„Gevatter, ihr seid nicht gescheit,
versteht ihr mich? Ich wills euch lehren,
daß Rain und Gras mir zugehören.
Ich will nicht eher sanfte ruhn,
das Recht, das soll den Ausspruch thun.“
So saget Kunz, schlägt in die Hand
und rückt den spitzen Hut die Quere.
„Ja, eh ich diesen Rain entbehre,
so meid ich lieber Gut und Land.“
Der Zorn bringt ihn zu schnellen Schritten,
er eilet nach der nahen Stadt.
Allein, Herr Glimpf, sein Advokat,
war kurz zuvor ins Amt geritten.
Er läuft und holt Herr Glimpfen ein.
„Wie,“ sprecht ihr, „kann das möglich sein?
Kunz war zu Fuß, und Glimpf zu Pferde.“
So glaubt ihr, daß ich lügen werde?
Ich bitt euch, stellt das Reden ein,
sonst werd ich, diesen Schimpf zu rächen,
gleich selber mit Herr Glimpfen sprechen.
Ich sag es noch einmal, Kunz holt Herr Glimpfen ein,
greift in den Zaum und grüßt Herr Glimpfen.
„Herr,“ fängt er ganz erbittert an,
„mein Nachbar, der infame Mann,
der Schelm, ich will ihn zwar nicht schimpfen,