Neue Seit. Sweites Blütenalter deutscher Dichtung.
205. Frau Hitt.
Ciroler Vollssage.)
Wo schroff die Straße und schwindlig-jüh
Herniederleitet zum Inn,
Dort saß auf der mächtigen Bergeshöh
Am Weg eine Bettlerin.
kin nacktes Kindlein lag ihr im Arm
Und schlummert in suüͤßer Ruh',
Die zärkliche Mutter hüllt es warm
Und wiegt' es und seufzte dazu:
„Du freundlicher Knabe, du liebliches Kind,
Dich zieh' ich gewiß nicht groß,
Bist ja der Sonne, dem Schnee und dem Wind
Und allem Elend bloß.
„Zur Speise hast du ein hartes Brot,
Das ein anderer nimmer mag,
Und wenn dir jemand ein Äpflein bot,
So war es dein bester Tag.
„Und blickt doch, du Armer, dein Auge hold
Wie des Junkers Auge so klar,
Und ist doch dein nn so reines Gold,
Wie des reichsten Knaben Haar!“
So klagte sie bitter und weinte sehr,
Bis Lärmen ans Ohr ihr schlug:
Mit Jauchzen trabte die Straße einher
Ein glänzender Reiterzug.
Voran auf falbem, schnaubenden Roß
Die herrlichste aller Frau'n,
Im Mantel, der strahlend vom Nacken ihr floß,
Wie ein schimmernder Stern zu schau'n.
Die strahlende Herrin war Frau Hitt,
Die reichste im ganzen Land,
Doch auch die ärmste an Tugend und Sitt,
Die rings im Lande man fand.
Ihr Goldroß hielt die Stolze an
Und hob sich mit leuchtendem Blich
Und spähte hinunter und spähte hinan,
Und wandte sich dann zurück:
„Blickt rechts, blickt links hin in die Fern,
Blickt vor- und rückwärts herum:
Soweit ihr überall schaut, ihr Herrn,
Ist all mein Eigentum