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Ebenso ist es mir zweifelhaft, ob ich in den erklärenden An—
merkungen überall das rechte Maß gehalten habe. Wer die Mund—
art kennt, in der ein Gedicht abgefaßt ist, wird der Erklärungen
kaum bedürfen; einem Andern werden vielleicht die nicht genügen,
die ich bringe. Doch darf ich versichern, daß mein ernstes Bestreben
dahin ging, nichts unerklärt zu lassen, was vom Standpunkt der
hochdeutschen Schriftsprache aus unverständlich oder nur schwer
verständlich erschien. Die Anmerkungen selbst habe ich so kurz als
möglich gefaßt; besonders habe ich sprachgeschichtliche und etymologische
Eroörterungen, zu denen sich vielfach Gelegenheit geboten hätte, ver—
mieden, um der erklärenden Thätigkeit des Lehrers nicht vorzugreifen.
Meine Absicht ging anfangs dahin, möglichst alle deutschen
Mundarten zu berücksichtigen, wie dies Regenhardt in seinem treff—
lichen Werke „Die deutschen Mundarten“ (3 Bde. 2. Aufl. 1899)
gethan hat. Allein wenn auch kaum ein deutscher Gau ohne dich—
lerische Vertretung geblieben ist, so mußte doch bei einer für die
Schule bestimmten Auswahl so viel ausgeschieden werden, daß ich
es vorzog, den litteraturgeschichtlichen Gesichtspunkt in den Vorder—
grund zu stellen und nur von den bedeutendsten mundartlichen
Dichtern Proben in die Sammlung aufzunehmen, die dadurch zu—
gleich zu einer Geschichte der deutschen mundartlichen Dichtung in
ausgewählten Musterstücken geworden ist.
Unter den neueren Dialektdichtern wird man vielleicht Rosegger
vermissen. Abgesehen davon, daß Roseggers Bedeutung nicht in
seinen Dialektdichtungen zu suchen ist, über die jüngst Meyer in
seinem wertvollen Buche: „Die deutsche Litteratur im 19. Jahr—
hundert“ S. 683 fsolgendes Urteil gefällt hat: „Auch die besten
(Stoansteirisch 1885) bleiben hinter der liebenswürdigen Grazie
Stielers, der Kraft des alten Kobell, der Originalität Stelzhamers
zurück; der Inhalt drückt überall die Gebinde entzwei wie ein
aufquellendes Packen die leichten Weidenstäbe eines Korbes“, wollte
Roseggers Verleger nur für einige wenige Stücke die Aufnahme in
die vorliegende Sammlung gestatten, die doch nicht genügt hätten,
ein Bild des Dialektdichters Rosegger zu geben.
Daß ich statt dessen Stelzhamer, der erst in neuerer Zeit in
seinem vollen Werte gewürdigt worden ist, ausführlich berücksichtigt
habe, wird man dankbar begrüßen.
Ausgeschlossen blieben ferner alle Dichter, die in ihren
Werken nicht ausschließlich die Mundart, sondern ein Gemisch von
Hochdeutsch und Dialekt gebrauchen. so Jeremias Gotthelf,