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Emanuel Geibel.
584. An dDeulschland.
(1871.)
1. Nun wirf hinweg den Witwenschleier;
Nun gürte dich zur Hochzeitsfeier,
O Deutschland, hohe Siegerin!
Die du mit Klagen und Entsagen
Durch vierundsechzig Jahr getragen,
Die Zeit der Trauer ist dahin,
2. Die Zeit der Zwietracht und Beschwerde,
Da du am durchgeborst'nen Herde
Im Staube saßest, tief gebückt,
Und kaum dein Lied mit leisem Weinen
Mehr fragte nach den Edelsteinen,
Die einst dein Diadem geschmückt.
3. Wohl glaubten sie dein Schwert zerbrochen,
Wohl zuckten sie, wenn du gesprochen,
Die Achsel kühl im Völkerrat;
Doch unter Tränen wuchs im stillen
Die Sehnsucht dir zum heil'gen Willen,
Der Wille dir zur Kraft der Tat.
4. Und endlich satt, die Schmach zu tragen,
Zerrissest du in sieben Tagen
Das Netz, das tödlich dich umschnürt,
Und heischtest, mit beerztem Schritte
Hintretend in Europas Mitte,
Den Platz zurück, der dir gebührt.
5. Und als der Erbfeind dann, der Franze,
Nach deiner Ehren jungem Kranze
Die Hand erhub, von Neid verzehrt,
Zur Riesin plötzlich umgeschaffen,
Wie stürmtest du ins Feld der Waffen,
Behelmte, mit dem Flammenschwert!
6. O große, gottgesandte Stunde,
Da deines Haders alte Wunde
Die heil'ge Not auf ewig schloß
Und wunderkräftig dir im Innern
Aus alter Zeit ein stolz Erinnern,
Ein Bild zukünft'ger Größe sproß!
7. Wie Erz dnrchströmte deine Glieder
Das Mark der Nibelungen wieder,
Der Geist des Herrn war über dir;