H 852. Deutschlands klassische Literatur. 407 
Stufenleiter der Geschöpfe nachzuweisen, aus der Organisation des Menschen, dessen Vernunft- 
fähigkeit und dessen äußerer Bildung seine Anlage zur Humanität und Religion herzuleiten und 
ihn als Mittelglied zweier Welten darzustellen; dann baut er mit Phantasie und orientalischem 
Schmuck ein kühnes Gebäude von nrweltlichen Traditionen auf, von denen Wissenschaften, Künste, 
Regierungen u. s. w. hergeleitet werden, und stellt die Religion als älteste und heiligste aller 
ererbten Traditionen dar. Dabei dient ihm Moses' Schöpfungsgeschichte, die er durch kühne, 
geniale Deutungen mit den Resultaten der neuesten Naturforschung in Uebereinstimmung zu 
bringen weiß, als Ausgangspunkt. Dieses mit poetischem Schwung und edlem Enthusiasmus und 
in bilderreicher Sprache verfaßte Werk, welches das rein Menschliche über das Christliche undNatio- 
nale stellt, war von der größten Wirksamkeit, war das eigentliche Evangelium des Hu m an itä ts- 
princip's Alle Gebildeten, die dem dürren Symbolglauben der Orthodoxen eben so abhold waren 
wie der zerstörenden Denkglänbigkeit der Neuerer, flüchteten sich zu Herder's Religionspoesie, die 
der Phantasie und dem Gemüthe Nahrung gab, ohne den denkenden Geist zu fesseln. Die streng¬ 
gläubigen Theologen waren dagegen weder mit den kühnen freien Grundsätzen und Ideen, noch 
mit der profanen Übertragung alttestamentlicher Schriften zufrieden (Lied der Liebe od er die 
ältesten und schönsten Lieder des Morgenlandes, Maran Atha oder von der Zu¬ 
kunst des Herrn u. a.). Aber Herder ließ sich nicht irre machen; in seinen Briefen über 
das Studium der Theologie suchte er das empfängliche Gemüth der Jugend für die poe¬ 
tische und weitherzige Auffassung des Christenthums zu begeistern und Humanität als Zweck und 
höchste Vollendung aller Religion hinzustellen, und in den Humanitätsbriefen und andern 
Schriften ging er auf die letzten Quellen und den reinsten und einfachsten Kern des Christen, 
thums zurück und redete im Gegensatz zu den bestehenden Landeskirchen und Secten einer 
Menschheitsreligion und Weltkirche das Wort, worin natürlich ein möglichst weite« und allge¬ 
meines Glaubensbekenntniß die Grundlage bilden mußte. Seitdem traten Confesfton und 
Nationalität hinter dem Princip der Humanität zurück: Vaterland und Kirche bestimme der 
Zufall der Geburt, der Glaube an die Würde der Menschheit dagegen sei die Errungenschaft der 
eigenen Lulturbestrebuug. In diesen Anschauungen stimmte Herder mit dem Freimaurer. 
Orden überein. Sie sind der Schooß, aus dem die Ideen der Sklavenemancipation, der Fne- 
denscongresfe, der Philanthropie emporwuchsen. 
§. 852. Goethe. In keinem Dichter spiegelt sich die Zeit so klar und richtig ab 
als in Goethe, was von seiner Beobachtungsgabe und Empfänglichkeit für alle Eindrücke 
reuat. Geboren zu Frankfurt a. M. (am 28. Aug. 1749), in einer wohlhabenden ange¬ 
sehenen Familie, genoß er einer vortrefflichen Erziehung, die er dann m Leipzig und 
Straßburg vollendete, ward aber auch frühzeitig mit den verflochtenen Verhältnißen und 
sittlichen Zuständen einer großen Stadt vertraut, zum Nachtheil seiner jugendlichen Un¬ 
schuld, daher auch seine ersten, in den Leiden Lustspielen „die Laune des Verlieb¬ 
ten" und die Mitschuldigen" niedergelegten dramatischen Versuche, die er wah¬ 
rend seines Leipziger Aufenthalts verfaßte, das Sittenverderbniß im Familienleben zum 
Mittelpunkt haben und keine Spur jugendlicher Dichterbegeisterung verrathen. Jn^eipztg, 
wo er die Rechte studirte, kam er in Verbindung mit Gellert und den Verfassern der 
Bremer Beiträge, fühlte sich aber abgestoßen von der engen Literatur und dem niedern 
Gesichtskreis dieser schwunglosen Dichter. Klopstock, dessen Gedichte er schon m elter¬ 
lichen Hause, zum großen Verdruß seines regelrechten, pedantischen Vaters, gelesen, blieb 
der Gegenstand seiner Bewunderung, bis Lessing's La ok o on. Wmckelmann s K u n st- 
oeschichte und Büffon's neue Gestaltung der Naturwissenschaft semem Geiste 
eine neue Welt erschlossen. Fortan blieben Kunst und Naturkunde die Gebrete, auf denen 
sein forschender Sinn am liebsten weilte. Nach einem kurzen Aufenthalt m Frankfurt 
wo er sich mit mystisch-chemischen Werken befaßte und mit Pietisten und Herrnhutern 
verkehrte (Fräulein von Klettenberg, aus deren Unterhaltung „die Bekenntnisse-einer 
schönen Seele" in Wilhelm Meister entstanden). begab er sich nach'©tra^arg, wo die 
anregende Einwirkung Herder's seinen Blick auf die Natur-und Volksdichtung richtete 
ihm Geschmack an der Bibel, an Ossian und Shakespeare einflößte undahn zu der Ansicht 
führte, „daß die Poesie eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Pnvaterbtheil einiger 
fein gebildeten Männer". Das ehrwürdige Münster erweckte in that Bewunderung sur
	        
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