Rausch: Die Stoa.
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Trümmern des irdischen Glücks erschien die Ahnung einer übersinnlichen
Seligkeit. So hat es nur weniger Jahrhunderte bedurft, um dem Gedanken,
der in den Werken des attischen Philosophen als wissenschaftlich geformte
Lehre geboren war, die Welt zu erobern und sie zum Platonismus zu bekehren.
Als dann um die Wende unserer Zeitrechnung das orientalische Re¬
ligionsleben in die Kulturwelt der Mittelmeervölker einströmte, da wurde
Platons Philosophie zum Kristallisationspunkt der größten Gedankenver¬
schmelzung, welche die menschliche Geschichte gesehen hat. Der Dualismus
der sinnlichen und der übersinnlichen Welt, wie ihn die Jdeenlehre begriff¬
lich darbot, wurde zum Grundriß aller religiösen Vorstellungen, und Pla¬
tons Theologie wurde zur Mutter zahlreicher theologischer Systeme. Seit¬
dem die Neupythagoreer damit begonnen, war der religiöse Platonismus
für Jahrhunderte der einheitliche Grundzug des abendländischen Denkens,
und er beherrschte als wissenschaftliches Prinzip die beiden größten Systeme
des religiösen Glaubens: die Theologie des Neuplatonismus und die Kirchen¬
lehre des Christentums.
31. Die Stoa.
Von Alfred Rausch. Leipzig, 1903.
a) Ihre Entwicklung.
Wenn in den Schriften des Neuen Testamentes im Hinblick auf das
Auftreten Christi wiederholt gesagt wird, daß die Zeit erfüllet war, so be¬
ziehen wir dieses Wort von der Fülle der Zeit auf die religiöse und poli¬
tische Entwicklung des israelitischen Volkes, auf das römische Weltreich,
welches Morgenland und Abendland umfaßte, auf den großartigen Handels¬
verkehr und auf die Verbreitung der hellenischen Sprache. Gewiß waren
das alles Bedingungen, welche erfüllt sein mußten, wenn eine in dem ent¬
legenen Palästina begründete Religion zur Weltreligion werden sollte. Aber
man sollte nicht vergessen, auch die griechische Philosophie mitzuzählen; denn
diese hat die Geister vorbereitet und für die geläuterte Lebensanschauung
des Christentums empfänglich gemacht. Das gilt vor allem von der stoischen
Philosophie. Der Apostel Paulus hat die Lehren der Stoa gekannt und,
nach der Art zu schließen, wie er sie in seiner weltgeschichtlich bedeutenden
Rede zu Athen verwertet, als eine Vorstufe zum Christentum angesehen:
„Er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Denn in ihm leben,
weben und sind wir; als auch etliche Poeten bei euch gesagt haben: Wir
sind seines Geschlechts."
Diese Worte, die der Apostel im Jahre 54 nach Christi Geburt wahr¬
scheinlich aus dem Markte von Athen vor dem Amtslokal des Areopag ge-