Full text: Sammlung deutscher Gedichte für Schule und Haus

— Lehrhafte Gedichte 
317. Die sterbende Glume. 
1. Hoffe! du erlebst es noch, 6. Weh' mir, daß ich dir vertraut 
Daß der Frühling wiederkehrt. Als mich wach geküßt dein Strahl; 
Hoffen alle Bäume doch, Daß ins Aug' ich dir geschaut, 
Die des Herbstes Wind verheert, Bis es mir das Leben stahl! 
Hoffen mit der stillen Kraft Dieses Lebens armen Rest 
Ihrer Knospen winterlang, Deinem Mitleid zu entziehn, 
Bis sich wieder regt der Saft, Schließen will ich krankhaft sest 
Und ein neues Grün entsprang. Mich in mich, und dir entfliehn. 
2. „Ach, ich bin kein starker Baum, 7. Doch du schmelzest meines Grimms 
Der ein Sommertausend lebt, Starres Eis in Thränen auf; 
Nach verträumtem Wintertraum Nimm mein fliehend Leben, nimm's, 
Neue Lenzgedichte webt. Ewige, zu dir hinauf! 
Ach, ich bin die Blume nur, Ja, du sonnest noch den Gram 
Die des Maies Kuß geweckt, Aus der Seele mir zuletzt; 
Und von der nicht bleibt die Spur, Alles, was von dir mir kam, 
Wie das weiße Grab sie deckt.“ — Sterbend dank' ich dir es jeht: 
3. Wenn du denn die Blume bist, 8. Aller Lüfte Morgenzug, 
O bescheidenes Gemüth, Dem ich sommerlang gebebt, 
Tröste dich, beschieden ist Aller Schmetterlinge Flug, 
Samen allem, was da blüht. Die um mich im Tanz geschwebt; 
Laß den Sturm des Todes doch Augen, die mein Glanz erfrischt, 
Deinen Lebensstaub verstreun. Herzen, die mein Duft erfreut; 
Aus dem Staube wirst du noch Wie aus Duft und Glanz gemischt 
Hundert Mal dich selbst erneun. — Du mich schufst, dir dank' ichs heut. 
4. „Ja, es werden nach mir blühn 9. Eine Zierde deiner Welt, 
Andre, die mir ähnlich sind; Wenn auch eine kleine nur, 
Ewig ist das ganze Grün, Ließest du mich blühn im Feld, 
Nur das Einzle welkt geschwind. Wie die Stern' auf höhrer Flur. 
Aber, sind sie, was ich war, Einen Odem hauch' ich noch, 
Bin ich selber es nicht mehr; Und er soll kein Seufzer sein; 
Jetzt nur bin ich ganz und gar, Einen Blick zum Himmel hoch, 
Nicht zuvor und nicht nachher. Und zur schönen Welt hinein. 
5. Wenn einst sie der Sonne Blick 10. Ew'ges Flammenherz der Welt, 
Wärmt der jetzt noch mich durchflammt, Laß verglimmen mich an dir! 
Lindert das nicht mein Geschick, Himmel, spann' dein blaues Zelt, 
Das mich nun zur Nacht verdammt. Mein vergrüntes sinket hier. 
Sonne, ja du äugelst schon Heil, o Frühling, deinem Schein! 
Ihnen in die Fernen zu; Morgenluft, Heil deinem Wehn! 
Warum noch mit frost'gem Hohn Ohne Kummer schlaf' ich ein, 
Mir aus Wolken lächelst du? Ohne Hoffnung aufzustehn.“ 
Rückert. 
584
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.