Full text: Anthologie mittelalterlicher Gedichte

Einleitung. 
dingungen, wie sie beim Epos vorhanden waren, nämlich durch 
Bildung einer höheren Gesellschaft, eine ritterlich-höfische Lyrik 
In derselben Slrophe, in der die östreichischen Spielleute Sieg⸗ 
frieds Tod sangen, sprachen edle Herren und Damen des Landes 
ihres Herzens Empfindungen aus In der großen Heidelberger, 
früher Paͤriser Liederhandschrift, die den lhrischen Schatz des 
deutschen Mittelalters am vollständigsten überliefert, sind unter 
der Überschrift des von Kürenberg solche Strophen erhalten, und 
in der Tat hat es in der Gegend von Linz ein Adelsgeschlecht 
dieses Namens gegeben. In anderen Formen dichteten Dietmar 
von Eist und ein Burggraf von Regensburg. 
Doch — „in den Talen der Provence ist der Minnesang 
entsprossen.“ Die im 12. Jahrhundert ausgebildete, im folgenden 
hlühende Kunstlyrik Südfraänkrelchs, die Dichlung der Trubadurs, 
hatte auch in Nordfrankreich Widerhall gefuünden, und aus 
beiden Gebieten flossen seit Beginn des letzten Drittels des 
Jahrhunderts starke Anregungen auf die süddeutschq dem stam 
fischen Hofe zugehörende Rilterschaft. Freilich war es nicht 
mehr eine naive, frisch empfindende, sondern eine alternde, zu 
spitzfindigen Erörterungen und Gefühlskonstruktionen neigende 
Kunst; daher kam es, daß die deutschen Nachahmer gerade diese 
wenig erfreulichen Eigenschaften ihrer Vorbilder für besonders 
schätzenswert ansahen und die Reflexion als hervorstechendes 
Moment in ihr Dichten aufnahmen. Völlig verstandesmäßig 
reflektierend sind die Lieder des Ritters Friedrich von 
Hausen, der Varbarossa nach Italien und nach Paläftina be— 
gleitete und wenige Tage vor seinem kaiserlichen Herrn in einem 
Gefecht gegen die Türken umkam. Auch Heinrich von Veln 
deke gehört zu den Minnesingern; et gelangte aus seiner 
niederrheinischen Heimat nach Thüringen uͤnd verpflanzte den 
Minnesang nach Mitteldeutschland. Ein Elsässer Reinmar der 
Alte wanderte nach Ostreich und fand am Hofe der Babenberger 
in Wien Aufnahme: er besonders pflegte die Reflexionspoesie 
und sang unaufhörlich Klagen über die Sprödigteit der Ge 
liebten. 
In Wien traf Walther von der Vogelweide VIII) mit 
Reinmar zusammen. Er muß anfangs der siebziger Jahre 
geboren sein, als seine Heimat gilt mit größter Wahrscheinlchkeit 
Tirol. Sein Name deutet auf die Herkunft von einem Vogel⸗ 
weidhof, einem kleinen Lehen eines Wald- und Wildhegers. 
Sicher ist, daß er in Östreich singen und sagen lernte 20 8 
doch solange er am Hofe diente, war auch ihm nur die reflek⸗ 
tierende Poesie gestattet, mit einem anderen Tone würde er 
nimmer Beifall gefunden haben. Mit dem Tode Herzog Friedrichs
	        
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