§ 60. Geistiges Leben.
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und später auch aus fischblasenähnlichen Öffnungen gebildet rourde. Rn
der Außenseite der Kirchen wurden über die hohen portale und Fenster noch au&enseite
spitze Giebel gesetzt, die man „Wimperge" nannte (Tafel VII, 5). Die
Strebepfeiler wurden nach oben hin stufenförmig verjüngt und liefen in
schlanke Spitzen, die sogenannten „Fi alert", aus. Uber die Vierung wurde
der „Dachreiter", ein zierliches Türmchen, gesetzt. Die Westseite erhielt
als besonderen Schmuck wohl eine großartige „Fensterro se" und vor
allem eilten oder zwei himmelanstrebende Türme. Rlle schrägansteigenden
Kartiert wurden mit „Krabben", zierlichem Blatt- und Knospenwerk, die
Spitzen mit Kreuzblumen geziert; am Dachrand dienten Drachen und
sonstige Ungeheuer als „Wasserspeier" (Tafel VII, 1).
Diese neue Bauart bildete sich im 12. Jahrhundert in Nordfrankreich Verbreitung
aus und verbreitete sich von da aus in die übrigen europäischen Länder. Hm
wenigsten beliebt wurde sie in Italien; man nannte sie hier spottisch die
„gotische Bauart", als sei sie von den halbbarbarischen (Boten erfunden. Name
mit größerem Hechte nennt man sie den Spitzbog enstil. Die meisten
gotischen Kirchen wurden nicht mehr durch geistliche, sondern durch weit-
liche Baumeister erbaut und sind Zeugnisse des idealen Sinnes, des Baumeitter
Reichtums und der Kunstfertigkeit des Bürgerstandes. In den Bauhütten
der großen Dome bildeten sich zahlreiche Meister aus, welche die erlernte
Bauweise in andere Städte und Länder verpflanzten. Immer größere Dome ®rö&e ber
wurden errichtet. Notstände führten nicht selten zur (Einstellung der 9Dome"
Bauten; viele gotische Dome wurden deshalb nicht fertig. Andere Kirchen
zeigen eine ungleiche Bauart, da spätere Geschlechter von den ursprüng-
liehen Plänen infolge des veränderten Kunstgeschmackes abwichen.
In Frankreich entstand als erste große gotische Kathedrale Notre schliche
Dame in Paris. Dort geringem Umfange, aber durch die Schönheit ihrer
Haumverhältnisse und ihres Schmuckes ein wahres Kleinod ist die St. Tha-
pelle zu Paris, die Ludwig der heilige um 1250 als Palastkapelle und
zur Kufbewahrung kostbarer Reliquien errichtete. Durch die gewaltige und
edle Wirkung ihres Inneren zeichnet sich die Kathedrale zu Rmietts
aus, durch ihre reichgeschmückte Westseite die Kathedrale zu Reims.
Die französischen Kathedralen zeigen prachtvolle Fensterrosen und Galerien
an der Westseite; ihren Türmen fehlt meist die Spitze.
In Deutschland fanden die gotischen Bauformen erst nach und nach
Aufnahme: zuerst der Spitzbogen, dann die Rippengewölbe, zuletzt die Strebe¬
pfeiler, die Auflösung der Wände in Fenster und all die anderen Besonder¬
heiten der gotischen Bauweise. In solchem Übergangsstil sind z. B. der
Dom zu Bamberg und der sieberttürmige Dom zu Limburg a. d. Lahn
Jlnbrä, Lehrbuch d. Gesch. f. höh. Mädchenschulen. II. ß