Einleitung.
Der römische Geschichtschreiber Cornelius Tacitus (gest. 118)
berichtet, daß die Germaͤneit in alten Liedern, der einzigen Art
historischer Überlieferung bei ihnen, den Ursprung ihres Volkes
und ihre Stammeltern — den Tuisto und seinen Sohn Mann
feiern, auch weiß er, daß Armin, der Sieger in der Varus—
schlacht, in Liedern besungen worden ist. Goͤtter- und Helden-
dichtung wurde also schon in früher Zeit geübt. Auf dem Fest—
lande schwanden die Götter vor dem Christentume, und die ihnen
geltenden Gesänge wurden vergessen; länger währte ihr An—
denken im Norden, und die als Edda, d. h. Urgroßmulter be—
kannte, um 1300 vereinigte Liedersammlung der Isländer ent—
hält eine Anzahl mythologischer Lieder. Da gibt eines durch
den Mund einer Seherin Auskunst über Ursprung und Ende
der Welt, ein anderes läßt Odin, den Vater der Götter, einen
Riesen nach denselben Dingen fragen, in einem driften muß ein
Zwerg den Thor darüber belehren; ein anderes wieder erzählt
vom Gotte Frey und seiner Liebe zur Riesin Gerda, andere be—
richten Thors Händel mit den Riesen (D)). In Deutschland
lebten die alten Götter nur verstohlen fort im Märchen und im
Aberglauben: in heut noch auf dem Lande üblichen Beschwoͤrungs
formeln haftet alte mythische Anschauung; ehrwürdig sind als
ungetrübte Reste des Heidentums die beiden in Merseburg
aufgefundenen, im 10. Jahrhundert niedergeschriebenen Sprüche,
durch die Mißgeschick inn Kampfe und auf der Jagd geheilt
werden soll (I). Man unterscheidet in beiden deutüch einen er⸗
zählenden Teil und die abschließende Zauberformel. Auch das
Andenken Armins und anderer Helden der Urzeit erlosch während
der Verschiebung der Stämme nach Süd und West. Jetzt
bildeten die Führer dieser Bewegungen den Mittelpunkt volks
tümlicher Überlieferung, einige wuchsen sich zur Verkörperung
ihres Volkes aus, indem ihnen allein Sieg und Eroberung,
VNiederlage und Untergang der Gesamtheit zugeschrieben wurden.
Es entsteht ein burgundischer Sagenkreis, in dem sich
48*