Full text: Anthologie mittelalterlicher Gedichte

Einleikung 
poetischen Literatur der Römer wohl bewandert, und unbedenklich 
berwendete er seine Erinnerungen besonders an Vergil, indem 
er ihm zahlreiche Ausdrücke, Phrasen, selbst ganze Verse entnahm, 
auch das alte germanische Gewebe mit klassischen Anschauungen 
selltsam verbrämte: die Parze spinnt den Lebensfaden, Phöbus 
senkt sich zu den westlichen Gestaden, die Seele des Erschlagenen 
entweicht zum Orkus. Auch das Gleichnis vom numidischen 
Bären eutstammt dieser Quelle. Dazu kommt der Gegensatz 
zwischen heidnischen und mönchisch-christlichen Elementen: der 
Held segnet den Wein mit dem Kreuzeszeichen, bevor er den 
Becher an den Mund setzt; nachdem er geprahlt, sinkt er reuig 
zur Erde und fleht Gott um Vergebung an, und als er die 
Leichen der Gegner vor sich sieht, betet er Auch aufdringliche 
Gelehrsamkeit erinnert an die Mönchszelle: die Insel Tha— 
probane (Ceylon) wird erwähnt; der Leser hört, daß ein Drittel 
des Erdkreises Europa heißt, die Hunnen werden Avaren, Pan— 
nonier, die Franken Sikambern genannt. Doch hat alles dies 
den deutschen Charakter der Dichlung nicht zu verwischen ver— 
mocht, besonders deutsch mutet auch heut noch die starke Be— 
tonung der Vasallentreue an, und lief poetisch ist der Konflikt 
Hagens n Lehns⸗ und Freundespflicht. 
Bald nach Beginn des NJahrhunderts hatte Karl d. Gr. 
die Unterwerfung der Sachsen vollendet; ihre völlige Bekehrung 
n Christentum blieb eine Aufgabe der nächsten Jahrzehnte. 
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auf Veranlassung Ludwigs 
des Frommen ein theologisch gebildeter Sachse zum Nutzen 
seiner Landsleute die Geschichte Jesu in altsächsischen Versen 
erzählte. Diese Dichtung, die zwischen 821 und 830 entstanden 
sein mag und die gewöhnlich Heliaud (Heiland, IV) genannt 
wird, beruht auf einer mit großer Freiheit benutzten lateinischen 
Evangelienharmonie, d. h. einer Vereinigung der vier evan— 
gelischen Berichte zu einei einzigen Leben Jesu, doch zog der 
Verfasser zuweilen auch die Blbel selbst sowie zu seiner Zeit 
belieble Bibelerklärungen von Alkuin, Beda und Hrabanus 
Maurus, dem gelehrten Abt von Fulda, heran. Die Technik 
der alteinheimischen Heldendichtung, wie sie sich in Versbau 
und Stil offenbart, hat der Dichter getreulich gewahrt, auch den 
Anschauungen seiner Stammesgenossen gewissenhaft Rechnung 
getragen. Daher steht auch hier die Mannentreue stark im 
Vordergrunde. Christus ist ein mächtiger Volkskönig, dem viele 
wackere Helden dienen — auch die Könige aus dem Morgen— 
slande sind ihm untertan. Freudig gehen die schwertfrohen 
Männer für ihn in den Tod, wie auch er wieder sein Leben 
für die Gefolgsmanuschaft einsetzt. Vom Königtum unzertrennlich
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.