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sichere Fahrt bieten, zumal Herder sogleich hinzusetzt, daß die Griechen uns
nur Freunde, nicht aber Gebieter, nur Führer und Borbilder, nicht aber
Unterjocher sein sollen. Von der Malerei dagegen fordert Herder den
lebendigsten Wechsel der Gestalten je nach dem Wechsel der Geschichte und
Menschenart. Herder stand in der Anerkennung der alten deutschen Maler¬
schulen noch sehr vereinzelt, als er auf seiner Reise nach Italien am
13. August 1788 aus Nürnberg an die Seinigen schrieb: „Unter allen
Gemälden, die es hier gibt, interessiert mich Dürer am meisten; solch ein
Maler möchte ich auch gewesen sein. Sein Paulus unter den Aposteln,
sein eignes Bild, sein „Adam sind Eva" sind Gestalten, die in der Seele
bleiben; auch sonst habe ich von ihm schöne, schöne Sachen gesehen; auch
ein Gemälde in der Burg, auf dem er sich in feiner Krankheit wie einen
Halbtoten gemalt hat, und das die rechte Vorstellung feiner Gefichtszüge
und des ganzen vornehmen, kräftigen, reinlichen Wesens verschafft, das in
ihm gewohnt hat. Sonst auch viele andere schöne Sachen, die an eine Zeit
deutscher Art und Kunst erinnern, die nicht mehr da ist und schwerlich je
wiederkommen dürfte." Und von demselben Standpunkt beurteilt Herder
auch das Wesen und die Geschichte der Baukunst. Zwar sehen wir zuerst
auch ihn in die herrschende Verachtung der Gotik rückhaltlos einstimmen,
wenn er sie in einem am 2. Dezember 3 769 zu Paris geschriebenen Tage¬
buchblatt nur künstlich im kleinen nennt, ohne Sinn für das Große, ohne
Simplizität, ohne menschlichen Ausdruck, ohne Freude; aber schon 1773 ver¬
öffentlichte er in den Blättern für deutsche Art und Kunst Goethes jugend-
mutige Verherrlichung Erwin von Steinbachs, und seitdem ist Herder der
geschichtlichen Würdigung der Gotik unwandelbar treu geblieben. Es ist
eines der schönsten Kapitel in Herders Ideen zur Geschichte der Menschheit,
das die großen Meisterwerke des Mittelalters preist und die gotische Bau¬
kunst aus der Verfassung der Städte und dem Geist der Zeiten erklärt;
„wie die Menschen denken und leben," heißt es dort, „so bauen und wohnen
sie". Der hohe Begriff der künstlerischen Monumentalität, seit Jahrhunderten
aus dem Bewußtsein der Menschen geschwunden, war auch für die bildende
Kunst in Herder wieder aufgelebt, wenn auch erst schwankend und dämmernd.
Und damit war jener verderbliche Wahn von einem entwicklungslosen, ewig
bindenden Formenideal, der die Kunst zu toter philologischer Nachahmung
verdammt, in der Wurzel vernichtet. Die durch Zeit und Volkstümlichkeit
bedingte Eigenart des schassenden Künstlers, seine Ursprünglichkeit und
Schöpferlust, war wieder in ihr Recht eingesetzt.
In den Jahren 1784—1791 erschienen Herders Ideen zur Geschichte
der Menschheit. Sie sind die Fortbildung und Vertiefung seiner früheren
Schrift über Philosophie der Geschichte, als deren zweite Auflage die Vor¬
rede sie ausdrücklich ankündigt. Die Betrachtung der geschichtlichen Tatsachen
ist daher im wesentlichen dieselbe geblieben. Auch hier spricht sich dasselbe
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