Full text: Sammlung deutscher Gedichte

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Abs Johannes in die Gegend wieder 
kam, die erste Frag' an ihren Bischof 
30 war: „Wo ist nein Sohn?“ — EEr ist gestorben!“ 
sprach der Greis und schlug die Augen nieder 
Wann und wie?“ — „Er ist Gott abgestorben 
ist — mit Tränen sag' ich es — ein Räuber.“ 
„Dieses Jünglings Seele,“ sprach Johannes, 
35 „fordr' ich einst von dir Jedoch wo ist er?“ — 
„Auf dem Berge dort!“ 
— Ich muß ihn sehen!“ 
Und Johannes, kaum dem Walde nahend, 
ward ergriffen; eben dieses wollt' er. 
Führet,“ sprach er, „mich zu eurem Führer.“ 
10 Vor ihn trat er. Und der schöne Jüngling 
wandte sich; er konnte diesen Anblick 
nicht ertragen. Fliehe nicht, o Jüngling 
nicht, o Sohn, den waffenlosen Vater 
einen Greis Ich habe dich gelobet 
5 meinem Herrn und muß für dich antkworten. 
Gerne ged' ich, willst du es, mein Leben 
für dich hin; uur dich fortan verlassen 
kann ich nicht! Ich habe dir vertrauet, 
dich mit meiner Seele Gott verpfündet.“ 
50 Weinend schlang der Jüngling seine Arme 
um den Greis, bedeckete sein Antlitz, 
stumm und starr; dann stürzte statt der Antwort 
aus den Augen ihm ein Strom von Träuen. 
Auf die Kniee sank Johannes nieder, 
5h küßte seine Hand und seine Wange, 
nahm ihn neu geschenket vom Gebirge, 
lnterte sein Herz mit süßer Flamme. 
Jahre lebten sie jetzt unzertrennet 
mile inander; in den schönen Jüngling 
60 goß sich ganz Johannes' schöne Seele. 
Sagt, was war es, was das Herz des Jünglings 
also tief erkannt' und innig fest hielt 
und es wiederfand und unbezwingbar 
ellete? Ein Sankt Johannes-Glaube, 
65 Zutraun, Festigkeit und Lieb' und Wahrheit. 
Gottfr. v. Herder (1795). 
o—
	        
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