Full text: Auswahl patriotischer Prosa aus der Zeit der Erhebung Preußens (1806 - 13) (71/72, [Schülerband])

Predigt Schleiermachers am 28. März 18183. 97 
durch diesen Zustand, man weiß nicht, ob man sagen soll nur 
ans Licht gebracht oder auch wirklich erzeugt und gebildet 
worden ist. — Die traurige Gewöhnung, Unwürdiges fort— 
während zu erdulden, wie wir sie öffentlich und einzeln in diesen 
sieben düstern Jahren geübt haben mit dem Gefühl, daß dem 225 
gerechten Unwillen freien Lauf lassen das übel nur mehren 
könne ohne irgendeinen heilsamen Erfolg; diese Gewöhnung 
und diefes Gefühl sind die Frucht der Schlaffheit, der Ent— 
nervung, der Feigherzigkeit: aber wie wurden nicht Feigherzig— 
keit, Schlaffheit und Entnervung durch sie vermehrt und ver-280 
breitet, bis jede Zupersicht zu sich selbst, bis jede Hoffnung — 
mit Ausnahme der törichten auf eine Hilfe, die bloß von 
außen käme, — bis selbst der Wunsch sich helfen zu können, 
ja bis das Gefühl eines besseren Zustandes würdig zu sein 
verschwand, und die trostlose Vorstellung sich der Gemüter be-285 
mächtigte, die lebendige geistige Kraft des Volks sei ganz er— 
schöpft und die Stunde des völligen Untergangs da, wie diese 
Besorgnis denn in nicht wenigen unter uns gewaltet hat, die 
von einem Tage zum andern die gänzliche Auflösung unseres 
eigentümlichen Daseins erwartend und nicht mehr hoffend, 240 
den Trost der Zukunft zu sehen, nur sannen, wie man sich am 
bequemsten fügen könne dem fremden Joch. — Die Unmöglich— 
keit, in der wir uns so oft befanden, ohne Lug und Trug der 
augenblicklichen Gefahr zu entgehen, die Notwendigkeit, Lob 
und Billigung, ja Übereinstimmung und Freundschaft zu heu-245 
cheln da, wo wir nur verachten und verabscheuen konnten, 
dies alles war schon die Frucht der Schamlosigkeit, welche um 
des Lebens willen jeden edleren Zweck des Lebens hintansetzt: 
aber wie ist nicht diese Schamlosigkeit durch jenen Zustand 
furchtbar ausgebildet worden, und welches Maß von Ernie- 250 
drigungen gehörte schon dazu, um nur den öffentlichen Unwillen 
zu reizen! — Die Unsicherheit alles Vesihes und aller Rechte, 
sie war großenteils schon eine Folge des Leichtsinns, mit dem 
man so ost in Zeiten der Drangsale nur die Not des Augen— 
blicks abzuschütteln oder die flüchtige Lust desselben zu genießen 255 
sucht, ohne zu bedenken, was man auf lange hinaus zerstört 
oder auf das Spiel setzt: aber bis zu welchem Grade hat jener 
unsichere Zustand diesen Leichtsinn gesteigert! Wie sahen wir 
Üppigkeit und Aufwand es den glücklichsten Zeiten gleichtun, 
Lorenz, Auswahl patriotischer Prosa. (Text · Ausg.)
	        
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