Predigt Schleiermachers am 28. März 18183. 97
durch diesen Zustand, man weiß nicht, ob man sagen soll nur
ans Licht gebracht oder auch wirklich erzeugt und gebildet
worden ist. — Die traurige Gewöhnung, Unwürdiges fort—
während zu erdulden, wie wir sie öffentlich und einzeln in diesen
sieben düstern Jahren geübt haben mit dem Gefühl, daß dem 225
gerechten Unwillen freien Lauf lassen das übel nur mehren
könne ohne irgendeinen heilsamen Erfolg; diese Gewöhnung
und diefes Gefühl sind die Frucht der Schlaffheit, der Ent—
nervung, der Feigherzigkeit: aber wie wurden nicht Feigherzig—
keit, Schlaffheit und Entnervung durch sie vermehrt und ver-280
breitet, bis jede Zupersicht zu sich selbst, bis jede Hoffnung —
mit Ausnahme der törichten auf eine Hilfe, die bloß von
außen käme, — bis selbst der Wunsch sich helfen zu können,
ja bis das Gefühl eines besseren Zustandes würdig zu sein
verschwand, und die trostlose Vorstellung sich der Gemüter be-285
mächtigte, die lebendige geistige Kraft des Volks sei ganz er—
schöpft und die Stunde des völligen Untergangs da, wie diese
Besorgnis denn in nicht wenigen unter uns gewaltet hat, die
von einem Tage zum andern die gänzliche Auflösung unseres
eigentümlichen Daseins erwartend und nicht mehr hoffend, 240
den Trost der Zukunft zu sehen, nur sannen, wie man sich am
bequemsten fügen könne dem fremden Joch. — Die Unmöglich—
keit, in der wir uns so oft befanden, ohne Lug und Trug der
augenblicklichen Gefahr zu entgehen, die Notwendigkeit, Lob
und Billigung, ja Übereinstimmung und Freundschaft zu heu-245
cheln da, wo wir nur verachten und verabscheuen konnten,
dies alles war schon die Frucht der Schamlosigkeit, welche um
des Lebens willen jeden edleren Zweck des Lebens hintansetzt:
aber wie ist nicht diese Schamlosigkeit durch jenen Zustand
furchtbar ausgebildet worden, und welches Maß von Ernie- 250
drigungen gehörte schon dazu, um nur den öffentlichen Unwillen
zu reizen! — Die Unsicherheit alles Vesihes und aller Rechte,
sie war großenteils schon eine Folge des Leichtsinns, mit dem
man so ost in Zeiten der Drangsale nur die Not des Augen—
blicks abzuschütteln oder die flüchtige Lust desselben zu genießen 255
sucht, ohne zu bedenken, was man auf lange hinaus zerstört
oder auf das Spiel setzt: aber bis zu welchem Grade hat jener
unsichere Zustand diesen Leichtsinn gesteigert! Wie sahen wir
Üppigkeit und Aufwand es den glücklichsten Zeiten gleichtun,
Lorenz, Auswahl patriotischer Prosa. (Text · Ausg.)