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9. Ein russischer Gefangenentransport.
In weiter Ferne wälzt sich inmitten der Straße grau, unförmig, unüber—
sehbar eine Riesenschlange heran: Gefangene Russen, 12 000 Mann! Wir fahren
zur Seite, um den endlosen Zug an uns vorüberzulassen. Welch schaurig-schönes,
traurig-⸗erhabenes Bild, gemahnend an Napoleons Rückzug 18121 Wie oft habe
ich die niederschmetternde Wirkung des bekannten Gemäldes mit leisen Schauern
vaterländischer Genugtuung bewundert. Hier sehe ich es in erschütternder Weise
zum Leben erstanden vor mir.
2. Mit schlürfenden, matten Schritten kommen sie heran, die elenden Trümmer
einer stolzen Armee: Große und Kleine, Alte und Junge, hohe, stämmige Männer
mit wallenden, blonden Bärten und trotzigen Blicken, dazwischen schmale, eng—
brüstige Jünglinge im Schlürfschritt; rothaarige Juden und gelbe, schlitzäugige
Mongolen, Hinterlist und Verschmitztheit in den Zügen, alle aber totenbleich,
mit tief in den Höhlen liegenden Augen und vor Kälte zitternd. Hunger und
Entbehrungen stehen ihnen in den Gesichtern geschrieben. Ein widerlicher Geruch
weht aus ihren Reihen. Die langen, rehbraunen, zerfetzten und beschmutzten
Mäntel schlottern ihnen um die Knie, während der breite Riemen des leeren
Brotbeutels sich um die schlaff herabhängenden Schultern legt. Um den Kopf
schlingt sich der dicke Baschlik, und die Füße sind mit buntfarbigen Tuchfetzen
umwickelt.
Unsere wackeren Kameraden haben im Getümmel der Schlacht gleich ganze
Arbeit gemacht und eine vollkommene Musterkarte des russischen Heeresbestandes
zusammengestellt. Infanteristen mit den unkenntlichen Abzeichen ihrer Regi⸗
menter, Dragoner mit hohen Sporenstiefeln und den breiten Tellermützen, stäm—
mige Kanoniere, bärtige Kosaken mit finsteren Blicken, sibirische Schützen, die
hohe, silbergraue Pelzkappe bis über die Ohren gezogen und leuchtende, karmesin—
farbene Achselstücke auf den Mänteln, Genie- und Trainsoldaten: alle ziehen sie
als traurige Zeugen gebrochener Kraft an uns vorüber.
Die meisten haben Kopf und Hände zum Schutz gegen die bittere Kälte mit
Tüchern und Lappen umwickelt. Keiner spricht ein Wort; gesenkten Hauptes
schleppen sie sich vorbei, nur hin und wieder trifft uns ein teils neugieriger teils
trauriger Blick, oder es dringt aus den Reihen heraus ein deutscher Laut an unser
Ohr. Namentlich unter den Gefangenen der sibirischen Bataillone befinden sich
viele deutsch Sprechende. Sie tragen größtenteils eine zuversichtliche Haltung zur
Schau, schreiten rüstig aus und reden ihren Kameraden munter zu. Immer noch
wogt und wallt es vorbei, Mann an Mann, Glied an Glied, eng aneinander ge—
drängt. Und um diesen endlos langen, gewaltigen Heerbann herum als „Be—
deckung“ ein knappes Hundert zufrieden dareinschauender Landsturmleute. Das
Gewehr über die Schulter gehängt, die Hände tief in die Taschen vergraben und
die Pfeife im Mundwinkel: so schreiten sie in weiten Abständen munter neben den
Gefangenen her. — Das Ende des Zuges ist noch immer nicht abzusehen, und so
fahren wir weiter.