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„Barbarengreuel“, die sie in ihren Zeitungen als Zugabe zu jedem Früh⸗
stück genießen. Ihre Sorge ist ein Irrtum; dieses Haus ist in Wahrheit
sorglicher behütet, als sie selbst es vor jedem Vernichtungsschreck des Krieges
hätten behüten können, wenn sie geblieben wären. Denn unter diesem
verlassenen Dache wohnt heute der Deutsche Kaiser, der Führer unseres in
Begeisterung und Lebenstrotz geeinten Volkes, der oberste Kriegsherr
unseres siegreichen Millionenheeres, das der deutschen Heimat erspart,
was unsere Feinde unter den Schlägen des von ihnen entfesselten Krieges
zu leiden haben.
Zwischen den Mauern dieses stillen, gutbehüteten Hauses ist nichts von
einem großzügigen Hofhalt zu gewahren. In dieser ernsten Zeit ist auch
das Leben des Kaisers von feldmäßiger Schlichtheit, ist wie gekleidet in
ruhiges, unauffälliges Feldgrau.
Die wenigen Gäste der Abendtafel versammeln sich in einem kleinen
Empfangsraum. Schon das begrüßende Wort, das jeder Kommende mit
den schon Anwesenden tauscht, ist der Beginn eines lebhaft bewegten Ge—
spräches über die jüngsten Vorfälle des Krieges, über den verheißungs⸗
vollen Stand der Dinge im Osten, über den Fortschritt im Westen. Nun
verstummt das Gespräch, und man tritt von der Tür zurück, die ein Diener
öffnet.
Es war mir seit einem Jahrzehnt vergönnt, den Kaiser zu sehen in
manch einer heiteren Stunde des Friedens, den er liebte und bis zum
äußersten zu erhalten suchte. — Immer hab' ich am Kaiser das von jedem
Schwanken freie Gleichmaß seiner aus Ernst und Frohsinn gemischten Art
verehrt und bewundert, habe mich erfreut an dem klaren Seelenspiegel
seines Blickes, an der lebhaften Offenheit seines Wortes, an seinem kräftigen
Lachen, an der freien Menschlichkeit und Frische seines persönlichen Wesens
wie an der gesunden Jugendlichkeit, die ihm eine besonnene, für jeden
deutschen Buͤrger vorbildliche Lebensführung und sein unerschütterliches
Vertrauen auf Gott, Welt und Menschen bis über die Reife des Mannes—
alters bewahrte.
Aber jetzt? Wieviel Hartes mögen diese fünf Monate seit Kriegs⸗
beginn über den Kaiser gebracht haben an Verantwortung, an Gewissens⸗
kämpfen, auch an schmerzvollen Enttäuschungen? Was hat die Last dieses
Weltaufruhrs ihm gegeben, was ihm genommen? In dieser letzten Zeit
habe ich oft erzählen hören, das Haar des Kaisers wäre weiß geworden, sein
Gesicht und seine Haltung um Jahre gealtert. Ich habe das nie geglaubt.
Gesunde und starke Bäume erfüllen ihre Zeit, troßz Sturm und Ungewitter.
Und dennoch muß ich bekennen: Jetzt befiel mich etwas Bedrückendes, eine
fiebernde Erregung, fast eine quälende Angst: Wie werde ich ihn wieder—⸗
sehen? Wird die frohe Güte, die immer aus ihm redete, gemindert sein,
verwandelt in Zorn und Härte? Werden Mißmut, Zweifel und Sorge
aus seinen sonst so gläubigen Augen sprechen?