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ihm erloschen — an der Wand hin und her krabbelte, ward er von unge—
fähr eines kleinen Risses in der Mauer gewahr. Da trat er wieder
hinein und sprach: Erxlaubet mir ein Wort zu reden, liebe Nachbarn!“
Als ihm dies vergönnt wurde, sprach er weiter: „Sind wir nicht alle
doppeltgebohrte Narren? Wir haben so ängstliche und üble Zeit mit
unserm Rathaus, wenden Unkosten dran und geraten noch dazu in
große Verachtung, und dennoch ist keiner von uns so gescheit gewesen,
daß er gesehen hätte, daß wir in das Haus keine Fenster gemacht haben,
durch die das Licht hereinfallen konnte!“
Über diese Rede erschraken und verstummten die andern alle. Sie
sahen einander an und schämten sich einer vor dem andern wegen der
gar zu plumpen Narrheit. Ohne die Umfrage abzuwarten, fingen sie
darauf miteinander an, allerorten die Mauern des Rathauses durchzu—
brechen, und da war kein Schildbürger unter allen, der nicht sein eigenes
Fenster hätte haben wollen. Also wurde das Rathaus vollendet.
Der Besuch des Kaisers.
Dem Kaiser des Reiches Utopien, zu dem das Städtchen Schilda
gehörte, war viel von den abenteuerlichen Schildbürgern erzählt worden.
Als ihn einst Reichsgeschäfte in jene Gegend führten, luden ihn die
Schildbürger bei sich zu Gaste, und der Kaiser, um der Kurzweil willen,
die er sich versprach, war willig dazu. Nachdem sie ihn in Schilda
herumgeführt hatten, geleiteten sie ihn in ihr merkwürdiges Rathaus und
hießen ihn an dem frischgedeckten Tische Platz nehmen. Das vornehmste
Gericht, das aufgetischt wurde, war eine frische, kalte, saure Butter—
milch; auf diese Seltenheit taten sich die Schildbürger am meisten zu⸗
gute. Der Schultheiß setzte sich mit dem Kaiser zu Tische; die übrigen
Bürger standen aus Ehrfurcht vor beiden um sie herum und langten
von oben herab in die Schüssel. Sie hatten aber weislich zweierlei
Brot in die Milch gebrockt. Vor des Kaisers Platz schwammen weiße
Semmelwecken in der Sahne, vor den Bauern lagen die schwarzen
Brocken in der Grundsuppe. Während sie nun aßen, der Kaiser das
weiße, die Schildbürger das Haberbrot, erwischte von ungefähr ein
Bauer einen Brocken von dem weißen Brote. Kaum hatte der Schult—
heiß diesen groben Verstoß wahrgenommen, als er den Sünder auf die
Hände schlug und ihn zornig anfuhr: „Flegel, willst du des Kaisers
Brot essen?“ Der Schildbürger erschrak, zog den Löffel schleunig zurück
und legte den gekosteten Bissen fein bescheidentlich wieder in die Schüssel.
Der Kaiser, der dieses wahrgenommen, hatte des Mahles genug und
schenkte den Schildbürgern die saure Milch mit samt dem weißen Brot.
Die Frau mit den Eiern.
Den Schildbürgerinnen erging es nicht anders als den Schild—
bürgern. Eine Witwe, die nur eine einzige Henne hatte, welche ihr